Vergangenheitsbewältigung im Krimi

Lesedauer: 10 Minuten
Thomas Ziebula: Der rote Judas

Vergangenheitsbewältigung im Krimi

Thomas Ziebula: Der rote Judas (2020)

Für einen guten historischen Krimi kann ich mich wirklich begeistern. Das hat Thomas Ziebula geschafft: realistische Charaktere, Zeitkolorit ohne ausufernde Beschreibungen, geschichtlich korrekt, spannend aufgrund von langsamer Detektion der Umstände und interessanter Menschen. Noch mal mehr, weil darin ein wenig bekanntes, dunkles Kapitel deutscher Geschichte auftaucht und die Beweggründe für 7 Morde (wenn ich richtig gezählt habe) liefert. Ich wäre nicht ich, hätte ich nichts zu kritteln, aber ich muss schon zugeben: Insgesamt ist das Ganze recht gut gelungen.

Ein politischer Kriminalfall

Als Kommissar Stainer im Januar 1920 nach Leipzig aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrt, scheint sein Beruf das einzige, was glückt. Aufgrund akuten Personalmangels wird er sofort zum Leiter der Kriminalabteilung berufen. Und die Arbeit, sprich der erste Tote, lässt nicht lange auf sich warten.
Privat und persönlich läuft es weniger gut. Sein Frau, die Jahre nichts von ihm gehört hat, ist mit einem anderen liiert. Schwere Kriegstraumata, die immer wieder hochkommen, behindern ihn emotional schwer. Nur mit Mühe kann Stainer den Schein wahren.
Hart wird es für den frisch gebackenen Inspektor, als er aktiv mit der Waffe eingreifen muss, einen Verbrecher tötet. Zudem erweisen sich die vermeintlichen Selbstmorde als Akte der Hinrichtung. Die ehemaligen Offiziere wollten Verbrechen der Wehrmacht aufdecken, also liegt der Verdacht nahe, dass eine national gesinnte Gruppe diese Verräter („Judas“) und noch weitere unschädlich machen will. Stainer wird auf diese Weise ständig mit seinen eigenen Kriegserfahrungen konfrontiert, doch er beißt sich durch und deckt gegen Widerstände in der eigenen Behörde den politisch prekären Fall langsam auf.
Parallel tauchen wir in weitere Personen ein, darunter die Mordopfer, eine Straßenbahn Fahrerin, eine Barbesitzerin und ein Boxer, die natürlich alle in die Handlung verwickelt sind und uns aus ihrer Perspektive viel von den Motiven und Hintergünden verständlich machen.

Mitten in den Strömungen der Zeit

Das Lokalkolorit: Nach Kriegsende beginnt eine unruhige Zeit. Der Kaiser ist ins Exil geflüchtet, verschiedene Parteien, von ultra rechts bis dunkelrot links, ringen in Berlin um eine neue Staatsform, der Vertrag von Versailles gibt Deutschland allein die Kriegsschuld, fordert die Auslieferung von Kriegsverbrechern und legt der Wirtschaft schwere Lasten auf, Hunger und Arbeitslosigkeit sind normal. Und Thomas Ziebula wirft uns mitten in diesen Wust und zeichnet ohne zu viel Infoüberschuss die wichtigsten Elemente mit Szenen, Stimmungen und Bildern in der Erzählung nach. Leipzig im Januar 1920 wird greifbar.
Das ist sehr gut getroffen.
Und die Charaktere? Schauen wir uns den Hauptakteur an.

Ein Inspektor auf der Couch

Kriminalinspektor Stainer hat Flashbacks, Albträume und Zittern, damals als Kriegsneurose oder Kriegszittern bezeichnet. Nach einem Zusammenbruch an der Front wird er gemäß seiner Erinnerung mit Elektroschocks behandelt – nach heutigem Wissenstand kontrainidikativ und absolut katastrophal. Sein Leiden und sein Weg, sich Hilfe zu suchen, um seinen letzten Halt nicht zu verlieren, seinen Beruf, wird sehr nachvollziehbar und sensibel beschrieben.
Stainer würde gerne alles vergessen, aber so funktioniert die Psyche nicht, weshalb er eine Behandlung sucht, „die Psychoanalyse“ (383 f.). Die „verborgenen Inhalte in den Abgründen unseres Unterbewusstseins (…) dem Bewusstsein zugänglich machen“. „Sich der schlimmen Dinge erinnern und sie aussprechen, wieder und wieder. Ein langer und schmerzhafter Weg.“
Korrekt wiedergegeben, nur dass die Psychoanalyse 1920 noch sehr wenig verbreitet war und m.W. in Leipzig in den späteren 20ern überhaupt erst Fuß fasste (vgl. Artikel zu Therese Benedek).
Also historisch ist es vermutlich fiktiv, sich als Inspektor auf die Couch legen zu lassen, inhaltlich durchaus passend und interessant für die Entwicklung des Hauptcharakters, der politisch eher den Sozialdemkraten zugeneigt ist und sympathisch modern in seiner Einstellung rüber kommt. Übrigens leitet sich daraus der Titel ab, weil Paul Stainer natürlich auch aus Sicht seiner Feinde zu den Verrätern gehört, als „Roter“ bezeichnet wird.

Spannung als Enthüllung des Gesamtbildes

Ist der Krimi spannend? – Kommt drauf an, was man darunter versteht.
Was fast vollständig fehlt, sind überraschende Wendungen, die beim Krimi (es sei denn Cosy) gemeinhin als die Würze gelten und für manchen gar „den“ Kitzel schlechthin ausmachen. Nichts davon in diesem Werk. Wer die Täter sind, ist von Anfang an kein Geheimnis, nur ihre Motive bleiben eine Weile im Dunkel. Selbst der Drahtzieher hinter allem war zu erwarten (ich darf nicht zu viel verraten), zumal die Auflösung am Schluss, dass er schon mehrfach in Erscheinung getreten ist, sehr „hinkt“. Das passt in die Logik eines hohen Militärs überhaupt nicht.
Die Morde, um die Liste des vermeintlich Unspannenden fortzusetzen, passieren nicht einfach, sondern werden alle über die Perspektiven der Betroffenen oder anderer vorbereitet, gekrönt mitunter von auktorialen Alleswissereien im Stephen-King-Stil: „Als ahnte er, dass er nicht zurückkehren würde, verzichtete er darauf, einen Fahrschein für die Rückfahrt zu kaufen“ (12). Klar dass dieser Heinrich stirbt, wenn es sich auch bis S. 265 hinziehen wird. Sogar der ungeplante dramatischer Mord am Ende des Romans (sorry für leichtes spoilern), wird angekündigt, wenn man aufmerksam liest.
Nervenkitzel der heftigen Art wie in marktüblichen Thrillern darf man also nicht erwarten, was mich jedoch nicht stört. Im Gegenteil. Viele dieser scheinbar spannend inszenierten Krimis leben nur von der überraschenden Auflösung, die oft so unglaubwürdig und absichtlich konstruiert wirkt, dass ich mich über die verschwendete Zeit ärgere. Dann finde ich es interessanter und befriedigender, einen Krimi wie ein Live-Kunstwerk präsentiert zu bekommen, dessen einzelne Pinselstriche sich nach und nach zu einem Gesamtbild zusammen fügen. Und ich glaube, dass diese Art des aufdeckenden Schreibens bei Ziebula System hat.

Rumgemäkelt: der unwahrscheinliche Zufall

Natürlich habe ich auch meine Kritikpunkte. Das Figurenkorsett in Der rote Judas ist sehr eng, weshalb in der kleinen Gruppe an Personen viel, vielleicht zu viel kulminiert. Manches ist plausibel, anderes extrem unwahrscheinlich.
Drei der fünf wesentlichen Leipziger Polizisten haben Kriegsverbrechen erlebt, einer die Versenkung eines Lazarttschiffs, der andere sogar das von Dinant (bei dem tatsächlich die sächsische Division federführend war). Das passt noch. Dass die Ermordeten mit dem Massaker von Dinant zu tun hatten, liegt auch in der Natur der Sache. Dass sie sich aber ausnahmslos in Leipzig aufhalten? Schwierig.
Gleich dreimal trifft Stainer zufällig auf den Geliebten seiner Frau: In einer Metropole von über 600.000 Einwohnern? Und der Psychiater, der unsachgemäß das Kriegstraumata des Inspektors an der Front behandelt hat, ist nun der Pathologe der Kriminalabteilung in Leipzig? Nee … Und ausgerechnet der Offizier, dem Stainer sein Leben im Krieg zu verdanken hat, ist sein erbitterter Kontrahent … Also echt.
Diese Kulmination von Zufällen (und noch manch andere!) mag ich in historischen Romanen gar nicht, weil sie nur ein Zugeständnis an das Lesepublikum sind, das nicht gerne in größeren Kreisen denken will und alles schön beschaulich braucht.
Nur ist halt das Leben nicht so. Die Geschichte auch nicht. Und die hätte ich gerne einigermaßen realistisch präsentiert in einem historischen Roman.

Schöner als die Realität …

Man weiß zwar im Roman nicht, ob der/die Verantwortlichen im Fall „Der rote Judas“ auch für ihre Morde bestraft werden, überführt und der Gerichtsbarkeit übergeben sind sie. Die historische Realität sah vermutlich anders aus. Hohe Offiziere, die sich in den „Leipziger Prozessen“ für das Massaker von Dinant veranworten mussten, wie Oberst (später) General Johann Meister und Oberstleutnant Johann von Braun, wurden von diesem Gericht frei gesprochen. Wie schwer sich die wilhelminisch geprägte Justiz in der Weimarer Republik mit Verbrechen von rechts tat, ist allgemein bekannt. Etwas mehr Ambivalenz, statt eines klaren Sieges der Gerechtigkeit, hätte der Roman schon andeuten können, um der Realität näher zu kommen.
Deutschland hat sich übrigens erst 2001 offiziell für das begannen Unrecht in Dinant entschuldigt. Ein Beispiel, wie lange Geschichtsaufarbeitung dauern kann …

Fazit

Dass Inspektor Stainer ein Kätzchen rettet und beim Antrittsbesuch im Polizeiamt noch in seiner Jacke behält, bis es maunzt, ist wie auch die eben genannten spektakulären Zufälle ein Tribut an das Massenpublikum. Aber auch ein Autor muss nun mal von seiner Arbeit leben können. Sehe ich von diesen Elementen ab, hat Thomas Ziebula einen spannenden historischen Roman verfasst, der kriminalistisch tiefdunkle Seite im sowieso schon finstern Ersten Weltkrieg beleuchtet, dabei Zeit und Menschen aufleben lässt und mir spannende Stunden der Lektüre bereitet hat.
In den beiden Folgeromanen von Thomas Ziebula (Abels Auferstehung, Engel des Todes) geht es direkt in den darauf folgenden Wochen in Leipzig mit den gleichen Charakteren weiter! Lohnt sich.

Thomas Ziebula: Der rote Judas. Kriminalroman, Rowohlt Taschenbuch Verlag 2021 (2020), 479 Seiten


Weiterführende Links:

Informationen zum Massaker von Dinant 1914 durch die Deutsche Reichswehr


Wolfgang und Heike Hohlbein: Der Greif
Sophie Bonnet: Provenzalische Täuschung
Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga Privat
Thomas Ziebula: Der rote Judas
Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland
Volker Weidermann: Das Buch der verbranten Bücher
Aki Mira: Titans Kinder
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