Kritiker und Autor

Lesedauer: 8 Minuten

Nestbeschmutzer …

Pfui bäh!
Gemeinhin gilt als solch unangenehme Person, wer böse Worte über die soziale Gruppe äußert, zu der er oder sie zugleich selbst gehört. Geht ja gar nicht. Oder?

Vor wenigen Wochen ist mein Erstling flügge geworden und ich darf mich seither zurecht Autor nennen. Meine neue Peergroup, mein Nest: Hallo ihr anderen Autor:innen!
Und das bedeutet, dass ich jetzt nichts Kritisches mehr über die Werke meiner eigenen Zunft äußern darf? Hm … das wäre schade.
Geht Autor und Literaturkritiker nicht in zwei Rollen einer Person? – Kann doch nicht sein!
Schlimm genug, dass Kritiker nur kritisieren, aber selbst nichts Kreatives zustande bringen. Darf man als Kreativer dann nur noch kreativ sein, aber nicht mehr kritisch?

Literaturkritischer Buchblog von Autor*innen?

Wenn ich eins in den sozialen Netzwerken gelernt habe, dann wie niedrig die Hemmschwelle bei sonst moderaten Köpfen ist, einem kurzerhand Neid, Missgunst, Eifersucht und manch andere niedere Motive zu unterstellen, sollte man es wagen, eine klar pointierte Meinung zu beziehen. Einen mittleren Shitstorm habe ich schon geerntet, mehrere andere fassungslos beobachtet.
Man wird vorsichtig. Muss ich also mit Schlägen unter die Gürtellinie rechnen, wenn ich weiterhin Rezensionen schreibe, die sich sehr kritisch mit Stil, Sprache und literarischer Qualität mit Büchern anderer Autor*innen beschäftigen? – Ja. Zumindest ist die Angst nicht unberechtigt.
Und da hätten wir schon mal ein klares psychologisches Motiv, warum man als Buchschreiber über das Buchschreiben von anderen besser die Klappe halten sollte. Denn ich bin viel angreifbarer und verletzlicher, wenn ich selbst ein Buch öffentlich zur Kritik stelle. Vermutlich sind die sozialen Netzwerke eben doch kein guter Ort für eine lebendig und fair geführte öffentliche Diskussion, befürchte ich …
Tatsächlich kenne ich kaum jemanden im Netz (was auch nur Unkenntnis sein kann), die oder der als Autor*in ernsthaft einen Buchblog betreibt (vielleicht das Buchensemble …) – heißt: Dass man nicht nur Leseempfehlungen von wohlgefälligen Büchern postet, sondern auch Auseinandersetzung bietet, warum manche Bücher nicht gefallen. Literaturkritik eben.
Mann/ Frau wäre ja dann ein netzbenutzender Nestbeschmutzer

Auf die Kritik kommt es an …

Also jetzt ist mal gut! Natürlich darf man seine Kritik nicht einfach „hinkacken“ (entschuldigt – das Bild vom Nestbeschmutzer verleitet dazu 😉 ). Das würde ich sowieso nie tun. Verrisse, wie sie in der Literaturkritik nicht selten üblich sind, gibt es bei mir nicht. Das gebietet schon die gute Kinderstube und der Respekt vor dem Geschaffenen anderer.
Leider ist es trotzdem nicht vermeidbar, dass Kritik, selbst wenn sie gut begründet und in den Worten mit Bedacht gewählt ist, auf Befindlichkeiten trifft und verletzend sein kann.
Ein Buch gar kommentarlos mit einem Stern (von 5) auf Amazon zu bewerten, was so viel heißt wie „der letzte Scheiß“, ist ein NoGo. Musste ich leider auch schon am eigenen Leib erfahren. Selbst wenn das Werk einem nicht gefällt, sollte einen die Achtung vor einem vielfältigen und sorgsam editierten Werk davon abhalten, einem einfach einen Stern vor die Füße zu kacken.
Natürlich liest man als Autor lieber positive oder gar enthusiastische Rezensionen. Man ist ja auch nur Mensch. Das bestärkt, lässt einen gerne weitermachen. Aber genauso hilfreich ist Kritik, wenn man ehrlich ist, zumindest mit etwas Abstand.
Ich glaube nämlich: Bestärkung ist gut für den Mut, aber Kritik ist besser für die Verbesserung.
Und wie bei Feedback generell – denn mehr ist eine Rezension ja auch nicht – kann man sich alles in Ruhe „anhören“, in Gedanken bewegen und nur das annehmen, was einem für sinnvoll erscheint.

So. Und nun will ich mir nicht anhören müssen, ich sei arrogant oder eifersüchtig, wenn ich meine gut begründete Meinung über andere Bücher hier äußere. Es macht mir Spaß, mich kritisch auseinander zu setzen. Das ist eine Form der Wertschätzung. Verstanden? Und es ist ein Findungsprozess, was mir gefällt, warum und wie ich selbst schreiben will und wie nicht. Ganz bestimmt ist es nicht Überheblichkeit! Seid versichert: Ich stehe mir selbst durchaus sehr kritisch gegenüber und bin offen für Feedback aller Art. Nur eben in einem guten Stil  – an dem ihr mich bitte auch messt und bitte auch euch selbst!

Übrigens gibt es einen prominenten Autor, der über 500 Rezensionen geschrieben hat. Und ich will einen Blick werfen, wie dieses große Vorbild es mit dem Stil in der Kritik gehalten hat …

Kurt Tucholsky Weltbühne
© Kurt Tucholsky-Gesellschaft e. V., Minden

Kurt Tucholsky als Literaturkritiker

Schloss Gripsholm und Rheinsberg kennt ihr doch bestimmt? – Zwei sinnliche Liebesromane mit selbstbestimmten Frauen und offener Sexualität, die ich im jungen Erwachsenenalter sehr mochte. Daneben war Kurt Tucholsky (* 09.01.1890 in Berlin; † 21.12.1935 in Göteborg) vor allem politischer Journalist und nicht zuletzt Literaturkritiker. Seine markigen Rezensionen erschienen zumeist als Beiträge in der Linksintellektuellen Zeitschrift „Die Weltbühne“ von 1913 bis 1932, insgesamt über 500 an der Zahl. Einige  davon hat der Publizist Fritz J. Raddatz als Bändchen bei rororo herausgegeben (1972), das sich übrigens entgegen meiner Erwartung ziemlich interessant und am Stück runterliest. Die gesammelten Rezensionen lassen sich auch online einsehen.

Urteile unter Kollegen

In den Fällen, die ich beurteilen kann, war Kurt Tucholsky nicht gerade zimperlich in seiner Kritik. Ganz sicher hat er aber immer einen wahren Kern getroffen und die Schärfe seiner Urteile mit humorvollen Formulierungen kaschiert.

James Joyce: Wer selbst schon versucht hat, sich durch Ulysses zu arbeiten und daran gescheitert ist, wird den Vergleich mit einer Suppenwürze schmunzelnd anerkennen: „Liebigs Fleischextrakt. Man kann es nicht essen. Aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden“ (23) – will sagen: diese erratisch aneinandergereihten inneren Gedankenflüsse in Joyce’s Roman sind in dieser extremen Weise ungenießbar, haben aber eine neue Schreibart geprägt, der viele Nachahmer finden wird.
Über Irmgard Keuns Gigli ( vergl. meine Rezension) seufzt er, „Wenn Frauen über Liebe schreiben, geht das fast immer schief“ (125), und mokiert, dass die Hauptfigur in ihrer Redensart „grade Freud gefrühstückt“ hätte. Stimmt. Von so vielen schön ziselierten und kokett zur Schau getragenen Komplexen hat man vorher noch nie gelesen – die Rheinländerin Keun macht es im Stil neuer psychologischer Sachlichkeit vor und viele ihr nach.
Erich Kästner gar unterstellt Kurt Tucholsky sächsischen „Geiz“ und „Kleinlichkeit“, fordert ihn auf „etwas abwechslungsreicher“ zu sein und wünscht dem Dichter ein „leichtes Leben und eine schwere Kunst“ (128 f.). Richtig. Kästner gehört zu den ehrlichen und nicht skandalumwitternden Autoren, ist direkt und nennt seinen Fabian sogar ein „moralisches Buch“. Und trotzdem kenne ich keine poetischere Karikatur mit mehr Biss als dieses Werk, abgefahren und beschwingt – aber eben nicht als nachahmenswerten Lebensentwurf geschrieben, sondern als Persiflage. Ist das bieder? – Ein bisschen, aber auf höchst möglichem Niveau.
Über Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues schreibt Kurt Tucholsky: „Das Buch ist keine großes Kunstwerk, aber ein gutes Buch“ (164). Zudem bezweifelt er dessen „aktive pazifistische Wirkung“ und prognostiziert, dass der Autor nie mehr einen solchen Erfolg landen wird und alle Folgewerke nur noch das entlarvende Label „Vom Verfasser vom ‚Im Westen nichts Neues'“ erhalten werden. Gut. Es war nicht zu erwarten, dass die nüchterne (und insofern ehrliche) Schilderung des Kriegs bei Remarque den nächsten verhindern würde, aber als Fanal gegen Dummheit und Kriegstreiberei ist es fest in der Erinnerung geblieben – gerade heute hat ein auf dieser Vorlage beruhender Film von Regisseur Edward Berger zahlreiche ➛ Oscar-Nominierungen erhalten.

Über andere wie Bert Brecht, Alfred Döblin (Linke Poth), Hans Fallada, Franz Kafka und Heinrich Mann äußert er sich überwiegend voll des Lobes, bedauert, dass seine „wenigen Zeilen“ nicht die „künstlerische Größe“ (53) ausschöpfen können, findet es einfach „himmlisch“ (201) und schwelgt: “ Wir dürfen lesen, staunen und danken“ (15). Einige der großen Literaten seiner Zeit hat er wohl erkannt und ihnen den gebührenden Respekt gezollt.

Wie der Kritiker sich selbst sah …

Kurt Tucholsky konnte zweifelsohne scharfzüngig sein, wollte dies jedoch von wenigen Ausnahmen  abgesehen (zu denen ich noch kommen werde) nicht als Missgunst und Herabwürdigung missverstanden wissen.

Seit ich mich bemühe, eine bunte und möglichst lehrreiche Buchkritik zu machen, ist mein erstes Bestreben dies gewesen: nicht das Literaturpäpstlein zu spielen. Das kann es nicht geben, und das soll es auch nicht geben. Jeder, der kritisch tätig ist, sollte täglich dreimal dieses Gebet beten: Damit, dass du kritisierst, bist du dem Werk nicht überlegen; dadurch bist du ihm nicht überlegen; dadurch bist du ihm nicht überlegen. ( ➛Q.)

Die nette Verniedlichung „Literaturpäpstlein“ zeigt seine Einstellung. Der Kritiker ist sich grundsätzlich der eigenen Begrenztheit, dem immer subjektiven Kontext bewusst – so gibt Tucholsky z.B. offen zu, dass er mit Robert Musil nichts anfangen kann, obwohl er ihn für ein bedeutenden Literaten hält.

Sehr viel aber ist ausgesagt, wenn man Kritik als den Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch ansieht; wenn es dann, nach Lichtenberg, hohl klingt: das muß nicht immer am Buch liegen. Das kann auch am Kopf liegen. Und ich möchte nicht, dass es hohl klingt. ( ➛Q.)

Auch wenn Kurt Tucholsky selbst als Autor Gegenstand der Kritik ist, will er sich nicht davon abhalten lassen, seine Kritiken offen und in einem Geist der Ehrlichkeit und des Respekts zu schreiben:

Mir klopft das Herz nicht schneller: nicht, wenn sie mich zerreißen, nicht, wenn ich sie zerreiße. Es gibt nur zwei eherne Gesetze für die Kritik: die Wahrheit zu respektieren und, von ganz seltenen Fällen abgesehen, das Privatleben des Kritisierten unberührt zu lassen. ( ➛Q.)

Und übrigens gilt: „Literarische Erfolge beweisen zunächst nicht viel für den Wert eines Werkes. Überschreiten sie aber ein gewisses Maß, so zeigen sie etwas an: nämlich nicht so sehr die Qualität des Buches als den Geisteszustand der Massen“ (166). Und dann ist nicht der Autor zu kritisieren, sondern vielmehr die „Leser“. Das ist doch auch ein gutes Prinzip, oder?

Krieg, Bürokratie, Kolonialismus, sowie Nazis und andere Dummköpfe

Die Grenze zum Verriss und zur Verdammung überschreitet Kurt Tucholsky nur, wenn er bare Dummheit und gefühllose Ignoranz ausmacht. Dann wird er ungnädig, gegen die SPD und ihren „feigen“ Reichspräsidenten Ebert (191), gegen „Scheindemokraten“ (192), gegen „Justizuntaten“ und die „gefährlichen Irren“ unter den Direktoren der Haftanstalten, gegen die „erschreckende Geistlosigkeit“ der Hitler-Bewegung (195) , gegen die „Unterdrückung“ durch die „imperialistischen Mächte“ (185, „Wir brauchen keine Kolonien“ 182), gegen die „kalte Rohheit“ der deutschen Offizierskorps“ (146, 140) … ja, gegen alles das, woran Kurt Tucholskys politisches Herz schwer trägt: Ungerechtigkeit, Geistlosigkeit, Unterdrückung und Kriegstreiberei.
Und ehrlich gesagt, macht ihn das sehr sympathisch. Diese engagierten Passagen sind ausgesprochen spannend zu lesen und zeigen deutlich, dass es einige wenige gab, die das Unheil der Nazizeit vorausgesehen haben und es mit aller schriftstellerischer Macht zu verhindern suchten.

Leider vergeblich. Kurt Tucholsky starb 1935 im Exil.

Gibt es ein Fazit?

Schon. Von dem streitbaren Rezensenten und sensiblen Schriftsteller Kurt Tucholsky fühle ich mich bestärkt. Autor und Kritiker geht zusammen.
Es ist legitim, seine Meinung auch über die Werke anderer in klarer Form zum Ausdruck zu bringen, sofern eines klar ist. Niemals stellt sich der Kritiker über dem Schriftsteller, nie wird seine Person angegriffen. Immer macht man die Grenzen des eigenen Kopfs deutlich. Und wo es einem wirklich gegen die Hutschnur läuft und echte Grotesken und Dummheiten anzuprangern sind, darf auch mal das Engagement mit einem durchgehen.
An diesem Maßstab will ich mich messen. Danke Kurt!

 

KURT TUCHOLSKY: Literaturkritik. Mit einer Vorbemerkung von Fritz J. Raddatz, Rowohlt 1985 (1972), 268 Seiten

 

Weiterführende Links:

Alle Rezension aus der Feder von Kurt Tucholsky sind unter textlog.de online zugänglich.

 

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