Augenzeuge der Katastrophe

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Augenzeuge der Katastrophe

Sebastian Haffner:
Von Bismarck zu Hitler (1987)
und
Geschichte eines Deutschen (1939/2000)

Kaum fassbar – am 23. März vor 90 Jahren so geschehen.
Es wirkt so banal – die vollständige Abschaffung der Demokratie in zwei Sätzen …

Das Ermächtigungsgesetz

Passend zum ersten perfiden Schritt der Machtergreifung Hitlers am 23.03.1932 (Beschluss, Veröffentlichung 24.03.) hatte ich Sebastian Haffners Geschichtsrückblick Von Bismarck zu Hitler gelesen. Der Publizist war selbst Zeitzeuge und versucht das Unfassbare zu erklären:

Nach der katastrophalen Wirtschaftspolitik der Weimarer Regierung unter Reichskanzler Brüning, die zu 6 Millionen Arbeitslosen führte, war die Geduld mit dem demokratischen System in der Bevölkerung überstrapaziert. Man wollte etwas Neues, Funktionierendes … und nur die wenigsten sahen, wen der Reichspräsident Hindenburg am 20. Januar zum Kanzler berief.
Sofort terrorisierte Hitler die linksgerichteten Parteien, nahm den Reichstagsbrand zum Vorwand für eine tödliche Verfolgung seiner Gegner, erreichte damit die Zweidrittelmehrheit im Reichstag und ließ diesen sich selbst am 23. März abschaffen – nur 8 Wochen nach seiner Ernennung als deren Repräsentant und dem Schwur zur Treue.
Was danach kam, wissen wir alle.

Mir war es fast schon wieder aus dem Gedächtnis entfallen, wie brandgefährlich damals die Gegner der Demokratie diese mit ihren eigenen Mitteln abzuschaffen suchten. Wäre das heute auch noch so einfach möglich wie für Hitler? – Sicher nicht, aber ich will es nicht aus dem Gedächtnis verlieren.
Als Erinnerung kann ich die Lektüre von Sebastian Haffners Rückblick nur wärmstens empfehlen. Kurz und pointiert, nah am Geschehen (historisch m.E. weitgehend korrekt) und sehr gut zu lesen.
Haffner, mit bürgerlichem Namen Raimund Werner Martin Pretzel, war bei der Machtergreifung Hitlers 25 Jahre alt, frisch gebackener Jurist, der das Dritten Reich als Katastrophe wahrnahm. 1938 wanderte er schließlich nach England aus. Damit ist er „unverdächtig“, eine nachträgliche Geschichtsklitterung zu forcieren oder das eigene Versagen zu beschönigen. 

Warum ich Sebastian Haffner in der „Goldens Berlin“ -Reihe aufnehme? – Weil er mit einem weiteren Buch, die „Geschichte eines Deutschen“, die Zeit der Zwanziger Jahr in Berlin autobiographisch und mitunter romanhaft spannend nachzeichnet. Und das mit dem Abstand von nur wenigen Jahren (1939) und ohne das bitter Ende bereits zu kennen. Veröffentlich wurde dieses Manuskript erst 2000, ein Jahr nach Haffners Tod.

 

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen

Zwei Revolutionen

Für Raimund (geb. 1907) waren die Kriegsnachrichten im Berliner Alltag das Spannendste: Technik, Strategie, ein Spiel, weit entfernt und mit viel Raum für die kindliche Phantasie. Auch das Ende war kaum real zu greifen, wohl aber die Oktoberrevolution (1918), bei der nun tatsächlich in Berlin direkt vor seinem Haus geschossen wurde. Dass sich die Sozialdemokraten mithilfe der rechtsgerichteten nationalen Freicorps gegen die Kommunisten durchsetzten, machte den Anfang der Weimarer Demokratie mehr als fragwürdig. Für den Jugendlichen Reimund wie für viele andere war das alles unverständlich, denn die Leute erzählen noch 1920 ernsthaft, dass der Kaiser wiederkäme.
Auch für die komplett verrückte Zeit der Inflationswirren, war der 16-Jährige noch zu jung. Findige, vor allem junge Berliner spekulierten an der Börse, weil Aktien 1923 das einzig Wertvolle zu sein schienen. „Yuppies“ schossen aus dem Boden, die Verzweiflung schlug in Vergnügungssucht um …
„Junge Paare wirbelten durch die Straßen der Vergnügungsviertel, wie in einem Film über die oberen Zehntausend. Überall war jeder mit der Liebe beschäftigt mit Hast und Lust. Ja die Liebe selbst hatte einen inflationären Charakter angenommen. Die Gelegenheit mußte ergriffen werden; die Masse mußte sie bieten.“ (…) Es gab eine andere Seite des Bildes. Die Bettler häuften sich mit einem Male; auch die Berichte über Selbstmorde in den Zeitungen (…). (58 f.)

Erst die Stresemann-Ära (1924-1929) brachte Ruhe, Frieden und nach dem Wirtschaftskollaps wieder deutlich mehr Wohlstand. Der Deutsche frönte dem Privatleben, der Massensport als neues Hobby verzauberte alle, Internationalität war großgeschrieben, außer Franzosen und Engländern tummelte sich die ganze Welt in Berlin. Frauen und Männer definierten sich neu.

„Berlin war damals eine ziemlich internationale Stadt. (…) ‚wir (…) waren nicht nur  fremdenfreundlich, sondern fremdenenthusiastisch (…).“ (79).
„Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren offener und freie als je (…). Wir hatten schon nicht einmal mehr verächtliche Überlegenheitsgefühle, sondern nur noch staunendes Mitleid für jene Generation, die in ihrer Jugend nur unerreichbare Jungfrauen zum Anschwärmen und Huren zum Abreagieren hatten (79). 

Selbst Haffner ist im Rückblick aus dem Exil 1939 erstaunt: „ich weiß nicht, was heute schwerer zu begreifen ist: dass es dies einmal in Deutschland gegeben hat (…) oder: dass es so spurlos weggewischt werden konnte“. Denn nach den schweren Jahren von 1929-1933 geschieht am 23.03.19933 die zweite Revolution, bei der alles gleichgeschaltet wird und nichts mehr von dem Bunten und Weltoffenen bleibt …

Angriff auf das Private

Während Sebastian Haffner von der Zeit vor 1933 nur einzelne Eindrücke und Geschichten privater Natur einfließen lässt, die seine Sicht illustrieren, berichtet er aus 1933 viel persönlicher von seiner Liebe, dem Schicksal seiner jüdischen Freunden, dem Terror, der auch an seine Haustüre geklopft hat. Absolut spannend und bedrückend zu lesen. Obwohl die Machtübernahme Hitlers zunächst nur eine Nachricht aus der Presse war, die man kaum ernst nahm, beeinflusste das Regime in nur wenigen Wochen alles bis in das Privateste. Kein Entfliehen mehr möglich: Ausreiseverbot und Berufsverbot für Juden, Nazis von heute auf Morgen als Entscheidungsinstanz in allen Behörden, Verbot zahlreicher Zeitungen und deren Nazifizierung, Denunziation, Deportation und angeblicher „Selbstmord auf der Flucht“ von Gegnern.

„Widerstand gab es in ganz Deutschland höchstens als individuelle Verzweiflungstat“ (130).
„Lernen wir beten: Die Juden sind schuld, anstatt: Der Kapitalismus ist schuld. Vielleicht wird uns das erlösen.“ (133).
„Wir waren verfolgt bis in die Schlupfwinkel unseres Privatlebens (…). Zugleich wurde man täglich aufgefordert: nicht, sich zu ergeben, sondern: überzulaufen. Ein kleiner Pakt mit dem Teufel – und man gehört nicht mehr zu den Gefangenen und Gejagten, sondern zu den Siegern und Verfolgern“ (198).

Wie perfide das Hitler-System funktioniert hat, zeigt sich dann in der ausführlichen Schilderung, wie der Jura-Referendar Reimund 1933 in ein Ausbildungs-Lager interniert wird und dort erzwungen Deutschtum und Kameradschaft erlernen soll, „marschieren, singen und grüßen“ (264). Natürlich hat er mitgemacht. „Wir alle sangen. (…) Indem wir uns auf das Spiel einließen, das da mit uns gespielt wurde, verwandelten wir uns ganz automatisch  – wenn nicht in Nazis, so doch in brauchbares Material für die Nazis. Und wir ließen uns darauf ein. Warum eigentlich?“ (266). Diese „Kameradschaftshurerei“ (…) zersetzte „alle Elemente von Individualität und Zivilisation“ (279, 282). Nicht umsonst schreibt Haffner darüber meist nicht in Ich-Form, bewusst und als „Pointe“ (274), denn das Ich spielte keine Rolle mehr  … 

Sebastian Haffner: Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933, Pantheon 2014 (2000), 303 Seiten.
Sebastian Haffner: Von Bismarck zu Hitler. Ein Rückblick
, Kindler 1987, 330 Seiten.

 
Goldenes Berlin

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