Edelfäule

Lesedauer: 7 Minuten

Ben Aaronovitch: Der Oktobermann. Eine Tobi-Winter-Story ()

In jedem Jahr gehe ich mit einem lieben Freund auf Weinreise. Das ist Entspannung pur, außer vielleicht für die Leber – aber die ist daran gewöhnt. Es dürfte deshalb nur noch wenige Örtchen in Deutschland geben, von denen ich noch nie gehört habe, wenn sie denn für ihren gekelterten Rebsaft berühmt sind. „Ehrang“ (33) an der Mosel war mir gänzlich unbekannt, bis ich dort meinem ersten Toten begegnete, der fatalerweise an „Botrytis cinerea“ (35) verstarb. Dem Weinkundigen ist dieser Schimmelpilz ein Begriff, weil er als Edelfäule im Herbst manche Trockenbeerenauslese die letzte Süße verschafft oder bei zu starker Feuchtigkeit im Sommer ganze Ernten vernichtet. Als magische Mordwaffe aber ist mir der tückische Pilz noch nicht untergekommen. Jetzt schon. Aber natürlich nur im Buch.

Ben Aaronovitch ist inzwischen berühmt, weit über die einschlägige Szene hinaus. Mit dem 2019 verfassten Der Oktobermann (engl. The Octoberman, 2019) wagt er sich von London nach Trier und damit von der Themse an die sagenumwobene Mosel. Seine Bücher stehen seit fast zehn Jahren für eine magische Inszenierung der lokalen Gegebenheiten der Stadt an der Themse und ihrer Umgebung, wodurch die Reihe um den englischen Polizisten Peter Grant ein Subgenre stark geprägt hat: Urban Fantasy Krimi, also eine Detektivgeschichte, in der magische Morde aufklärt werden. Wenn sich Ben Aaronovitch nach Deutschland begibt und zudem die Szenerie in einer sehr alten Weinregion ansiedelt, dann musste ich das natürlich lesen. Witzigerweise ist mir das schmale Paperback (205 Seiten) in der Buchhandlung eines anderen Weinanbaugebietes in die Hände gefallen und ich konnte es genüsslich im SPA des lokalen Winzers lesen.

Aber gleich vorweg. Ich bin stinksauer mit Ben Aaronovitch. Warum? Ich kenne so viele verträumte, verwinkelte und geradezu magische Weinorte an der Mosel und hatte mich total darauf gefreut, einem davon in verzauberter Weise zu begegnen, eingedenk der paradiesischen Auswahl. Und was macht dieser unkundige Engländer? – Er lässt die Morde an einem Weinort – Ehrang – geschehen, den es zwar als Vorort von Trier gibt, in dem es aber in Echt weder Weinberge noch Winzer gibt. Ist das zu fassen? Dem eigentlichen Lesespaß mag dies keinen Abbruch getan haben, dem bücherliebende Weinfan allerdings wurde eine bittere Enttäuschung zugefügt.

 

Ben Aaronovitch - Der Oktobermann
Die Edelfäule gibt dem spät im Herbst gelesenen Wein eine besonders wertvolle Note. Im "Der Oktobermann" wird sie zu einer magischen Mordwaffe ...

Weinseligkeit und Flussgöttinnen

Der Oktobermann ist eine Art Spin-off aus der beliebten Peter Grant Reihe des Autors. Tatsächlich wird der Londoner Polizeibeamte für magische Fälle und Zauberlehrling von Inspector Nightingale  als vorbildlicher Kollege erwähnt. Aber an der Mosel ermittelt Tobi Winter, seines Zeichens Sohn des Mannheimer Polizeipräsidenten, der nicht ganz in die nüchternen Fußstapfen seines Vaters treten will. Der junge Beamte gehört zu einer Sondereinheit, die sich mit unerklärlichen Fällen beschäftigt – eine Abteilung des BKA „für komplexe und diffuse Angelegenheiten“ (14), kurz KDA, die nur aus ihm und seiner Chefin besteht. 

Der magische Krimi

Tobi Winter wird zu einem mysteriösen Todesfall nach Trier gerufen, einer Stadt, die nicht gerade als „Verbrecherhochburg“ (15) bekannt ist, dafür aber eine weit über 2000-jährige Geschichte vorzuweisen hat, was nicht ganz unwichtig sein wird. Der Tote wurde in einem Weinberg bei Ehrang gefunden und schnell von dort unter höchsten Schutzmaßnahmen zur Obduktion ins Labor gebracht. Die Leiche ist nämlich überwuchert von Schimmel, der abartig schnell gewachsen sein muss. Tobi Winter spürt am Tatort das „Vestigium“, die Spur der Anwendung von Magie. Gemeinsam mit der Trierer Kommissarin Sommer (ein jahreszeitlich perfekt abgestimmtes Duo!), stößt Winter schnell auf sonderbare Praktiken, die man seit Generationen in der Winzerfamilie des betroffenen Weinbergs gepflegt hatte. Einige Flasche des besten, durch edelfaule Trauben zu einem erlesen Tropfen herangereiften Weines wurden regelmäßig auf einer Insel des nahen Flusses an einen Baum gehängt. Die jetzige Erbin hatte als junge Frau jedoch mit dieser Tradition gebrochen, lange im Ausland geweilt und versucht nun das Weingut wieder neu aufzubauen. Der Kommissar vermutet die Rache jener Flussgöttin, der einst das Opfer geweiht wurde.

Als Tobi Winter an dem alten Platz erneut Wein darbietet, ruft ihn eine Frau an und verabredet sich mit ihm am Trierer Marktplatz. Die schöne „Kelly“ (64) bedankt sich und weiß nicht nur um Geschehnissen aus längst vergangenen Tagen, sondern spricht auch von einem Erwachen der Magie, wie es in den Flüssen Londons geschieht. Auf die Tat angsprochen verneint Kelly eine Beteiligung. Winter allerdings ahnt einen tieferen Zusammenhang und entdeckt tatsächlich in einem Bildnis von Ferdinand Tietz aus dem 18. Jahrhundert das Antlitz von Kelly als Tochter des Weingottes.

Dann wird vieles skurril. Ein zweiter Toter. Der Koch des Weingutsrestaurant wurde von dem Alkohol vergiftet, der sich in seinem Magen unnatürlich schnell aus den dort gefunden Trauben gebildet hat. Weinmagie? Aus dem Kreis von Weinliebhabern, zu denen der erste Tote gehörte, schält sich ein Verdächtiger heraus. Allerdings gibt es kein rationales Tatmotiv, bis Winter von den Gebeinen eines Magiers erfährt, den die Flussgöttin der Mosel einst als Sühne für dessen Taten unter der Marienstatue für ewig vergrub. Könnte der Geist des toten Magiers von dem Verdächtigen Besitz ergriffen haben? Und wie genau überführt man einen schuldlosen Täter, in dessen Kopf ein mächtiger Geist sitzt?

Lokalkolorit mit magischer Einfärbung

Das Schöne an Ben Aaronovitchs übernatürlichen Krimis ist, dass sie überschaubare Fälle darbieten und diese wie im Genre üblich detektivisch entfalten. Das Tatmotiv wirkt immer allzu menschlich, obwohl die mordenden Wesen alles andere als Menschen sind. Diese Kombination aus von Mythen gespeister Mystik und der rationalen Methode der Deduktion übt einen ganz besonderen Reiz aus. Aaronovitch widersteht der Verlockung, ein Drama des Weltuntergangs mit heldenhafter Rettung zu inszenieren, wie es jeder zweite Fantasyroman versucht. Er bleibt ganz nah an den geschichtlichen und örtlichen Fakten, erzählt geradezu bodenständig, gut recherchierte Polizeiarbeit, und lässt dennoch das Anormale ganz selbstverständlich in das Alltägliche einfließen – eine alte Tradition des angelsächsischen Schauerromans und damit ein Genuss, selbst wenn der Roman in Deutschland spielt.

Gleichwohl ist Der Oktobermann kurz wie eine Novelle und lässt keine komplexe Ermittlungsarbeit mit verschiedenen Seitenwegen und -verdächtigen zu. Kaum entsteht ein wenig Krimifeeling mit leichten Schauerelementen, da ist die Geschichte auch schon zu Ende. Außerdem wird sie durch die fehlende Länge auch ein bisschen simpel und vorhersehbar.
Übel aufgestoßen ist mir dagegen neben dem nicht existenten Weinort (selbst wenn sich der Autor in Nachwort mit „künstlerischer Freiheit“, S 206, entschuldigt, wohl ahnende, was er getan hat), dass wieder einmal die Nazis als absolut Bösen in Erscheinung treten (wenn auch nur in einem Nebenstrang) und selbst in der magischen Welt für viel Leid und Zerstörung verantwortlich zeichnen. Können die Engländer das nicht einfach lassen? Die geschichtliche Schuld unserer Nation ist unbestritten. Keine Frage. Aber als unreflektiertes Klischee müssen die Nazis doch nicht in jedem Universum herhalten, oder?

Trotz dieser Kritik besticht Ben Aaronovitch mit seinem einmaligen Stil. Trocken und selbstironisch kommentiert der Erzähler Tobi in seinen Gedanken die Umstände der Ermittlung. Die Dialoge wirken ebenso frisch wie realistisch. Infos wie über die Geschichte Triers sind in  schmackhafte Anekdoten verpackt. Das Miträtseln um die Geheimnisse des Falles gelingt, weil diese dosiert und präzise in der Situation aufgedeckt werden. Und schließlich wirken auch die magischen Hintergründe fast selbstverständlich, wie sie in kleineren Einheiten als Selbstreflextion des Erzählers eingestreut werden und die magische Dimension immer mehr plausibel machen. Alles ist wie immer eine gute Mischung, nur eben in diesem Roman sehr verkürzt.

Ben Aaronovitch - Der Oktobermann
Steil steigen die Hänge an den Ufern der Mosel auf.

Fazit

Es war klar, dass ich diesen Roman lesen musste. Urban Fantasy von einem von mir sehr geschätzten Autor, dann auch noch über Wein an der Mosel in Deutschland. Geradezu unvermeidlich, dass mir das Buch irgendwann in die Finger geriet. Ich habe es genossen. Aber nicht uneingeschränkt.

Der Oktobermann ist eine schöne, dickflüssige Essenz wie durch Edelfäule erzeugt. Ein guter Einstieg für Unkundige, weil es wie eine Komprimierung vieler Züge wirkt, die sich in den Flüssen von London weit langsamer entfalten und manchmal eine fast zu komplexe Vielschichtigkeit entwickeln.
Beim Wein würde man vielleicht von einer „Fruchtbombe“ sprechen, die vielen gefällt, weil sie den weniger Geübten starke Geschmacksempfindungen beschert. Unter Weinkennern allerdings gilt eine solche hervorstechende Inensität nicht als Qualitätssiegel. Feinere Nuancen wissen den sensiblen Gaumen nämlich eleganter zu kitzeln.

Für eingefleischte Fans von Aaronovitch liefert die Story außer einem deutschen Ermittlungsteam nichts Neues. Es ist eine gute Einführung in die Welt der Flüsse von London, bietet für einen Lokalkrimi aber zu wenig interessante Ermittlungsarbeit und für einen Urban Fantasy zu wenig von der mysteriösen Welt hinter dem Alltäglichen. Natürlich ist das Buch eine nette Unterhaltung bei einem Glas guten Weines, sehr geistreich und witzig in den einzelnen Elementen, aber im Gesamtentwurf bescheiden.

Ben Aaronovitch: Der Oktober Mann. Eine Tobi-Winter-Story. dtv 2019, 205 Seiten.

 

Hintergrundinfos

Die Büchern von Ben Aaronovitch in der richtigen Reihenfolge.
Die Homepage des Autors. 
Eine interessante Reportage aus einer Lokalzeitung.

Weitere Rezensionen:
Kejas Wortrausch
SchreiblustLeselust
Ivy Booknerd
Booknerds

Stimmungsvolle Zitate

 

 „(..) er meinte eher, dass wir auf eine spirituelle Weise mit dem Fluss verbunden wären – dass der uns Glück und Reichtum schenkte. Er glaubte, wir müssten ihm Opfer bringen.” (37)

„Im Fernsehen bellt immer ein Vorgesetzter den Einsatzleuten Instruktionen zu, aber in Wirklichkeit wissen die Kollegen schon von allein, was ansteht, vor allem zu Beginn einer Ermittlung.” (55)

„Zum Beispiel fehlt mir ein roter Faden. Wir ermitteln so vor uns hin- vom Tatort zur Autopsie und zum Opfer nach Hause – und suchen nach … Keine Ahnung, wonach wir suchen.” (76)

„Ihr nennt solche übernatürlichen Zwischenfälle >Transgressionen<, ja?” (77)

„Angenommen, die Göttin der Kryll hat Ferdinand Tietz Modell für seine Methe gestanden (…) Dann wäre sie Hunderte von Jahren alt.” (165)

Wiedergänger können „in jemandes Gehirn eindringen und ihn dazu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Wir nennen das Sequestierung.” (176)

Ben Aaronovitch: Der Oktober Mann. Eine Tobi-Winter-Story. dtv 2019

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