Eine Adlige zwischen Bogen und Schleier

Lesedauer: 7 Minuten

Martha Sophie Marcus: Die Bogenschützin  ( zwischendurchgelesen)

Es wër wol zeit, das ich meins aigen kindes geschrai elichen hort in ainer wigen gellen.
So kan ich der vergessen nimmer ewiklich,
die mir hat geben mut uff disem ertereich;
in aller werlt kund ich nicht finden iren gleich
.

Oswald von Wolkenstein, Es fügt sich,
15. Jahrhundert

Es wäre nun Zeit, dass ich meines eigenen Kinds Geschrei, /
in ehelichen Bahnen in einer Wiege gellen hörte. /
Doch nie und nimmer kann ich die vergessen, /
die mir Mut auf diesem Erdenrund gegeben hat. /
In aller Welt konnt ich keine finden, die ihr gleicht.
Quelle: Oswald von Wolkenstein-Gesellschaft e.V
Lied mit Musik (unbedingt anhören!)

Eine höfische Geschichte ganz nach der Maßgabe des großen Minnesängers aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Der besitzlose Bastard (= uneheliche Sohn) eines Adligen muss sich seinen Ruhm im harten Kriegshandwerk gegen die Feinde des deutschen Königs Sigismund (1368-1437) erkämpfen und gewinnt letztendlich nach Leid und Entbehrung das edle Fräulein seines sehnenden Herzens zur Frau. Genau so ließen sich die Geschicke einer der männlichen Hauptpersonen im Roman, Cord, zusammenfassen.
Aber: Wir sind in der Moderne angekommen. Die Geschichte wird von der Autorin Martha Sophie Marcus selbstverständlich in weiten Teilen aus der Perspektive der Frau erzählt. Und das stellt sich dann etwas anders dar.

Die Âventiure der Hedwig von Quitzow

Brandenburg A.D. 1414. Die Familie von Quitzow (ein altes Adelsgeschlecht der Mark) verliert ihre Besitztümer im Kampf gegen den zukünftigen Kurfürsten von Brandenburg. Bei der Eroberung der Hausburg geht Hedwig auf der Flucht verloren. Zuerst landet sie bei einem Köhler, dann nimmt sie ein als Einsiedler im Wald lebender Adliger auf. 7 Jahre später kehrt Hedwig als Erwachsene mit einem Auftrag in die mittelalterliche Welt zurück. Das Schwert ihres verstorbenen Ziehvaters soll sie zu dessen Sohn bringen. 

Die Burg ihrer Eltern hat inzwischen einen neuen Besitzer, der grausame Männer beherbergt. Sowohl einen alten Erzfeind ihres Adelsgeschlechts, Gerhard von Schwarzburg, als auch den lebenslustigen Soldner Cord trifft sie hier an. Zudem erfährt Hedwig, dass zwei Brüder von ihr sowie der Onkel Johann leben. Vor der Brutalität des Burgherren muss sie fliehen, schließt sich zwei fahrenden Spielleuten an, übergibt das Schwert Wilkin von Thorgau und gelangt unter der Obhut von Cord zu ihrem Onkel. Dort trifft sie nur dessen Eheweib an und wird in höfische Sitten gedrängt, bis der Bruder ihres Vaters aus dem Krieg zurückkehrt und die einer Fau nicht geziemenden Qualitäten (Reiten, Waffengang) durchaus anerkennt.

Beide Männer, der adlige Wilkin und der Bastard eines Grafen, Cord, bewähren sich in der Mission für den Kürfürsten Friedrich. Bei der Einsetzung des Sohnes von Friedrich zum Markgrafen lernt Hedwig Wilkin schätzen und sorgt durch ihre wehrhaften Bogenkünste für Furore. Der Kurfürst beschließt aus Eigennutz, die Familie Quitzow durch eine Vermählung näher an sich zu binden und setzt die Hochzeit zwischen Hedwig und dem Ritter Wilkin fest. Beide fügen sich willig in die Ehe.

Ein Auftrag des Kurfürsten führt das junge Paar unter großen Hindernissen (Überwinterung im Tatra-Gebirge) nach Ofen (Budapest, Ungarn), das sie nur dank Hedwigs beherztem Handeln lebend erreichen. Am Hof des Königs Sigismund spinnen die Feinde des Kurfürsten, von Schwarzburg und der verhasste Vater von Wilkin, ihre Intrigen, weshalb der edle Ritter des Verrates und Mords angeklagt wird. Unter dieser Belastung und dem Geheimnis, dass Wilkin der Sohn des Ziehvaters von Hedwig ist und kein von Thorgau, droht die Ehe zu zerbrechen. Als die Vorwürfe entkräftet werden können, das Paar wieder zueinander findet und ein Kind erwartet, stirbt Wilkin völlig unerwartet auf der Reise Sigismund zur Kaiserkrönung.

Der Anfeindung durch den rachsüchtigen Vater Wilkins ausgesetzt, flieht Hedwig zum Kurfürsten, erwirkt die Rückgabe des elterlichen Besitzes und entsetzt die Burg. Obwohl sie die Hilfe nicht bräuchte, findet sie in dem wegen Eifersucht in den Krieg gezogenen und nun zu einem ruhigen Leben zurückgekehrten Cord Unterstützung. Und wären sie nicht gestorben, würden sie noch heute glücklich und …

Eine Frau im Konflikt mit den männerdominierten Normen

Zusammengefasst klang die Geschichte jetzt doch nicht nach mittelalterlicher Frauenpower. Der äußere Rahmen bleibt von den Zwängen der Zeit geprägt, doch als LeserIn erleben wir die inneren Konflikte der Heldin sehr lebhaft mit, ohne dass sie diesen komplett entfliehen könnte. Und das macht es sehr spannend zu lesen. Der Roman atmet den Muff der alten Zeit mit einer ordentlichen Prise frischen Windes.

Hedwig ist frei aufgewachsen, fast auf Augenhöhe mit einem väterlichen Mann, bewegt sich lautlos im Wald, schießt treffsicher mit dem Bogen das Wild, ist wehrhaft mit Waffen und Worten – doch höfische Formen kennt sie nicht. Kein Wunder, dass ihre ersten Begegnungen mit der adligen Welt dramatisch verlaufen und ihr Freiheitsdrang im Aufbegehren gegen Unsinniges der Handlung permanent Stoff für Konflikte liefert. Als Hedwig den Schleier nimmt ist es wie ein goldener Käfig für sie, da auch ihr Ehemann nur bedingt mit ihrer spontan zupackenden Art umgehen kann und  Hedwigs „Aufsässigkeit“ seine Männlichkeit kränkt. Bogen und Schleier stehen symbolisch für diesen Konflikt zwischen naturverbundener Unmittelbarkeit und repressiver Gesellschaftsnorm.

Realistisch wäre ein frühzeitiger tragischer Ausgang der Âventiure der mutigen Frau, aber dann gäbe es kein dickes Buch und auch nicht die Freude, diesen leicht modern angehauchten Konflikt zwischen Freiheit, Konvention und Liebe mitzuverfolgen. Im Übrigen gibt es auch im Mittelalter historisch belegt starke Frauen.

Das historische Zeitgeschehen im Spiegel der Erzählung

Die geschichtlichen Hintergründe aus der Zeit des Romans sind gut belegt, aber nicht unkomplex (nur lesen, weg mag!)

In den Streitigkeiten um die römisch-deutschen Thron 1410 unterstützt Friedrich, Markgraf von Nürnberg, den Anwärter aus dem Haus Luxemburg, Sigismund. Nachdem dieser 1411 tatsächlich König wird, belohnt er Friedrich mit der Herrschaft über die Mark Brandenburg. Bisher von schwacher Hand geführt, genossen die Grafen der Mark weite Freiheiten und begehren gegen den „Tand von Nürnberg“ auf. Bis 1414 unterwirft Friedrich die Landesgrafen, darunter die von Quitzows (die Sippe von Hedwig), und wird 1415 deren Kurfürst, nun Friedrich I. genannt, der Begründer übrigens der preußischen Hohenzollern-Dynastie. Einer der aufständischen Quitzow Brüder, Johann, wird später begnadigt und erhält einen Teil seines ehemaligen Besitzes zurück.

König Sigismund, nun Herr über Ungarn, Böhmen und Mähren gelingt es im Konzil von Konstanz (1414-1418) die Kirche zu befrieden und die Zeit der Gegenpäpste (in Avignon seit 1378) zu beenden, dafür aber hat er einen in Böhmen (heute ein Teil von Tschechien) sehr beliebten Ketzer, Johannes Hus, 1415 hinrichten lassen. Die Hussiten vertreten die Lehre: die Heilige Schrift als Grundlage des Glaubens, Abendmahl für alle, Kirche in Armut und ohne Herrschaft – damit sind sie bereits 100 Jahre vor Luthers Thesenanschlag zu Wittenberg in den Kernpunkten reformatorisch. Und sie wissen sich zu organisieren. Nach dem berühmten Prager Fenstersturz von 1419 dauern die Hussitischen Kriege knapp 20 Jahre. Die angrenzenden Länder (Brandenburg, Polen, Ungarn) werden in die Kampfhandlungen ständig verwickelt. Erst 1437 kann Sigismund seine Herrschaft unmittelbar vor seinem Tod in Prag mit seiner Krönung geltend machen.

Liest man sich nebenher ein bisschen in das Zeitgeschehen ein, sind der geschichtliche Rahmen und die Beschreibungen im Roman sehr plausibel. Aber auch ohne diese Mühen wirkt die Handlung in sich absolut stimmig. Das Ziel der Autorin war es sicher nicht, ein plastisches Geschichtsbild dieser Zeit mit möglichst vielen Facetten zu malen, sondern eine spannende Geschichte auf einem realistischen Hintergrund zu präsentieren. Das ist ganz sicher gelungen, macht aber auch den Unterschied. Ein historischer Roman ist „Die Bogenschützin“ im landläufigen Sinne als Unterhaltungsliteratur ganz sicher, aber eben keiner, dem es um eine komplexere Darstellung der Zeit ginge, was mir ein bisschen gefehlt hat.

Angeregt hatten die Ereignisse aus dieser Zeit übrigens schon frühere Schriftsteller. So berichtet Theodor Fontane in seinem 5-bändigen Werk Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1862) von dem Geschlecht der Quitzows und erstaunlicherweise auch der Winnetou-Schöpfer Karl May, der einen (unvollendeten) Abenteuerroman über die raubritterhaften Umtriebe des Vaters von Hedwig und ihrem Onkel schrieb (Der beiden Quitzows letzte Fahrten, 1871).

Ⓒ Manfred Brückels, Die Fehde der Quitzows, Rotes Rathaus Berlin ( Wiki)

schwarz-weiß-bunt

Ich kann es kaum anders beschreiben. Wie im wirklichen Leben sind die Farbe in dem Roman über weite Strecken bunt und manchmal dann doch schwarz-weiß, was eben auch zum Farbspektrum gehört.
Die Verhaltensweisen der Akteure sind getragen von den mittelalterlichen (Wert-)Vorstellungen und werden mit absolut treffenden sprachlichen Ausdrücken beschrieben, so dass ein szenisches Bild entsteht mit dem Gefühl, tatsächlich im Mittelalter zu verweilen.
Gewalt und Sexualität sind in sehr vorsichtiger und gedeckter Begrifflichkeit geschildert, ohne etwas zu verharmlosen oder zu verschweigen. Bei diffamierenden Äußerungen z.B. gegenüber Niederen oder bestimmten Bevölkerungsgruppen wird immer in einem anderen Teil ein entsprechendes Gegengewicht geschaffen, das diese Diskriminierungen relativiert.
Der Köhler im Wald allerdings, der Graf von Schwarzburg und einige andere… sind  sofort als Böse erkennbar und erfahren kaum eine Schattierung. Ebenso werden alle anderen Frauen außer Hedwig in einem Maß als sittsam geschildert, das kaum den durchaus wilden Sitten an den mittelalterlichen Höfen entsprach. Ziemlich schwarz-weiß.
Aber ein bisschen Kontrast gehört vielleicht zu einem literarischen Gemälde, das hofft, einem breiteren LeserInnen-Geschmack zu gefallen.  

Fazit 

Durch die besonderen Umstände der Jugendjahre der Heldin ist es genial gelungen, die schwer im Mittelalter vorstellbare Hedwig von Quitzow zu erschaffen und ihr eine fast moderne Lebendigkeit zu verleihen, obwohl die Erzählung dennoch den Hauch der alten Zeit atmet.
Und trotz allem bleibt es eine höfische Geschichtserzählung: Adel, Dramatik, Romantik. Wogegen Bauern, Gesinde, Soldaten, das „gemeine“ Volk und ihr Schicksal nur in kleinen Nebenrollen auftauchen.

Die Bogeschützin ist kein Novum auf dem Markt der historischen Romane, aber, wie ich finde, mit Herz und genau dem richtigen Augenmaß für die Zeit und ihre Charaktere und zudem in stets passender Sprache geschrieben. Trotz anderer (selbstauferlegter) Leseverpflichtungen habe ich Die Bogenschützin immer vorgezogen und war – von der historischen Beilektüre abgesehen – ziemlich schnell durch.

Und wer denkt, das Mittelalter wäre nur edles Rittertum, Kirche und sittsame Minne, der lese sich das ganze Lied von Oswald von Wolkenstein sorgsam durch. Meint der weltgewandte Sänger mit der Frau, die er nicht mehr vergessen kann, wirklich das edle Fräulein seines liebenden Herzens? – Ich fürchte, er rät (wie auch an anderer Stelle) selbstbestimmt und geradezu modern von der Ehe ab zugunsten lustbetonter Liebesgeschichten. Denn – und das ist dann wieder sehr ulkig: Alle Frauen taugen nichts auf Dauer außer einer. Mama war halt doch die Beste!
Wehe dem, der glaubt, das Mittelalter wäre tumb und einfältig gewesen.

Martha Sophie Marcus: Die Bogenschützin. Goldmann 2013, Neuauflage MSM 2021 (Ebook), 543 Seiten.

Hintergrundinfos:

Die Bogenschützin gibt es derzeit nur noch als eBook, dafür in einer brandneuen Auflage.
Die Webseite der Autorin.
Ein Blog der Autorin, in der sie Interessantes zu ihren Romanen schreibt.
➛Historisches zu König/ Kaiser Sigismund, Friedrich I (Brandenburg). Geschlecht der Quitzows

Stimmungsvolle Zitate

(…) ihr lumpiger Aufzug stand in grellem Widerspruch zu ihrem Auftreten. Sie stand mit ihrer schlanken, schönen gewachsenen Gestalt so stolz da wie eine Fürstin. (77f)

Ohne dass es ihr bewusst gewesen war, hatte sie immer im Sinn gehabt, sich einfach in den Wald zurückzuziehen, wenn ihr die Welt draußen nicht gefiel. Nun zweifelte sie daran, ob es überhaupt einen Ort gab, an dem  sie sicher war. (110)

Hedwig beobachtete fasziniert, wie sich die edle Frau mit dem Daumen die Mundwinkel auswischte und die Krümel an ihrem Kleid abstreifte. (211)

Wie Blutegel sitzen die Kirchenmänner auf dem Volk und saugen es aus, die deutschen allen voran. Wir wollen den wahren Glauben in Würde leben, ohne dieses Pack, das uns beraubt und erniedrigt. (351)

Wenn Wilkins allerdings den verwahrlosten wilden Trupp betrachtete, der Köne unterstand, und ihn mit den Osmanen vergleich, die er bisher zu Gesicht bekommen hatte, fand er, dass es eher die Christen denn die Heiden waren, die Tieren ähnelten. (355)

Martha Sophie Marcus, Die Bogenschützin. Goldmann 2013, MSM 2021

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