Berlin Babylon

Lesedauer: 15 Minuten

Der Aufbruch zum Niedergang ()

Im Jahr 1929 ist einiges los in Berlin. Das berühmte Lichtspielhaus Babylon öffnet seine Pforten und gibt dem apokalyptischen Lebensgefühl dieser Tage einen Namen. Die Weltwirtschaftskrise wirft bereits ihre dunklen Schatten voraus, schafft ein sozial explosives Milieu und trägt zur endzeitlichen Stimmung bei mit allen subkulturellen Exzessen und ebenso Moralismus als Gegenbewegung. Politisch erreichen die Nationalsozialisten bei Landtagswahlen bereits über 10 Prozent, während die Roten – Kommunisten und Sozialisten (Sozialdemokraten) völlig zersplittert sind und sich im Blutmai eine offene Straßenschlacht mit der Polzei liefern.
Kunst und Kultur hat Hochkonjunktur: Alfred Döblin veröffentlicht seinen berühmten Berlin Alexanderplatz, Erich Kästner seinen Emil und die Detektive und Erich Maria Remarque das Antikriegsdrama Im Westen nichts Neues (während der in München lebende Thomas Mann den Literaturnobelpreis erhält). Der Blaue Engel mit Marlene Dietrich wird gerade in den UFA-Studios abgedreht und das neue Karstadt-Kaufhaus im Art Déco Stil am Herrmannplatz vom Publikum bei der Eröffnung gestürmt.

Mich hat die gesamte Zeit der Weimarer Republik schon immer fasziniert. Soviel Gegensätze und Strömungen, ein „Laboratorium der Vielseitigkeiten“ (Walter Benjamin). Die Zukunft scheint offen und alles möglich:  eine Weltrevolution der Bolschwiken oder vielleicht der Siegeszug einer demokratischen Mitte, die Liberalisierung von Homosexualität wie in der Berliner Szene oder die Moralisierung mit einer Rückbesinnung auf Wilhelminische Werte, dauerhaften Frieden in Europa nach dem Leid des „großen Kriegs“ (1. Weltkrieg) oder erneute Kriegstreiberei durch Aufrüstung und das Schüren von Vorurteilen … Keiner konnte wissen, wie es endet. Grotesk, dass es 1933 zu völliger Gleichschaltung in Politik, Kunst und Gesellschaft führte, dem Anfang der deutschen Katastrophe.

Zwei Bücher, die sich aus modernen Tagen dieser Zeit widmen, will ich vorstellen. Ein Krimi von Volker Kutscher, der im Jahr 1929 spielt, und einen kriminalistisch angehauchten Urban Fantasy des Autorenduos Vogt, dessen Handlung bereits ein Jahr frührer einsetzt. Beide Romane malen das Zeitkolorit in bunten Farben, sind aber stilistisch und im Ausgang sehr unterschiedlich.

Voker Kutscher Der nasse Fisch

Ungelöste Fälle in Berlin Mitte

Volker Kutschers erster Krimi (2008) hat mich positiv überrascht. Wenn etwas so populär ist, dass es das Siegel Spiegelbestseller trägt und eine Verfilmung (2017 ff.) im ARD mit spektakulärem Marketingaufwand folgt, muss das nichts heißen, jedenfalls nicht zwingend etwas Gutes. Aber „Der nasse Fisch“ ist ein solide gemachter Kriminalroman, lässt aber vor allem das Zeit- und Lokalkolorit in vielen Details und Ereignissen aufleben – ein hardboiled Sittengemälde der Kriminalpolizei am Ende der Weimarer Republik in der roten Burg, dem Polizeipräsidium der Hauptstadt und Weltmetropole Berlin.

Der erste Fall

Kommissar Gereon Rath ist ambitioniert, aber neu im Sittendezernat, der Inspektion E bei der Kriminalpolizei. Ihm gelingt unter seinem Chef, Bruno Wolter, die Zerschlagung einer kleinen Filmproduktion für pornographische Inhalte, später dann ein Coup gegen illegale Nachclubs. Aber der junge Beamte hegt Zweifel an seiner Tätigkeit. Was soll es bringen, denen, die es wollen, das bisschen Zerstreuung zu verleiten? Gereon ist im Herzen Mordermittler, war es bereits in Köln, bis ihn ein aufgebauschter Todesschuss für die dortige Polizei untragbar macht und der einflussreiche Vater (Kriminaldirektor) ihm die Stelle in Berlin zuschanzte. Als im Landwehrkanal ein verstümmelter Toter gefunden wird, der in der vorherigen Nacht noch sehr lebendig genau vor seinem Zimmer randaliert hatte und zu seinem russischen Vormieter wollte, sieht er seine Stunde gekommen, es allen zu beweisen: Er ermittelt auf eigene Faust, um den unverschämten Leiter der Mordkommission auszustechen.

Was dabei sicher nicht geplant war: Der Kriminaler aus der städtischen Provinz stolpert nicht nur unbedarft in den Sumpf von Korruption, Waffenschieberei und politischer Agitation innerhalb des Polizeipräsidiums, sondern gerät auch mit der Unterwelt in engste Berührung. Gereon Rath begegnet bei einer Recherche, die ihn in die Berliner Vergnügungsszene führt und als Tarnung sogar zum Koksen verführt, Dr. M., einem kühlen Geschäftsmann in der kriminellen Szene (Ringverein). Dessen Interessen an einem illegalen Goldtransport aus Russland decken sich mit denen der Kriminalpolizei, denn der tote Russe war darin verstrickt. Der Kommissar verbündet sich im Informationsaustausch mit dem Verbrecher. In dunklen Vierteln unterwegs wird Gereon verfolgt, tötet aus Notwehr einen Mann und lässt diesen auf einer Baustelle im frischen Beton verschwinden. Natürlich ist das sein erster Fall, als er mangels Personal in die Mordkommission berufen wird und er kann die Kugeln austauschen, was den Verdacht später auf einen Kollegen lenken wird, der tatsächlich einen Mord an einem jungen Polizisten verübt hat und Waffenschiebereien für die Nationalen betreibt.

Nicht alle eigenen Ermittlungen des neuen Kommissars sind von Erfolg gekrönt. Sein Versuch, den Polizeipräsidenten an der Linie vorbei von seinen Ergebnissen zu überzeugen, endet sogar desaströs. Isoliert von seinen Präsidiumskollegen, auf der Mordliste eines korrupten Kommissars, aber mit dem Verbrechersyndikat im Bund gelingt Gereon Rat der unglaubliche Coup, den gordischen Knoten in der Mitte durchzuschlagen: Korruption und Verbrechen werden bestraft, wenn auch nicht genau für das, was man ihnen zur Last legen müsste …

Natürlich kommt auch diese Geschichte nicht ohne ein bisschen Liebe aus. Charlotte Ritter (Charlie) arbeite als Stenotypistin im Präsidium und studiert nebenbei Jura, eine ideale Besetzung für den Part. Langsames Anbahnen bei der Arbeit, eine Liebesnacht, Turteln, aber dann der Bruch, weil Gereon Informationen von ihr egoistisch ausnutzt. Nach der Aussprache deutet sich an, dass es in Band 2 wieder etwas werden könnte (und auch tut!). Nett gemacht.

Typischer hardboiled Krimi?

Ich bin ja nicht der Krimiexperte, fand aber die Spurensuche und die verworrenen Weg der Aufklärung, Finten und falsche Fährten inbegriffen, von vier Morden im ersten Roman spannend genug, dass ich es als Krimi gerne gelesen habe. Die Verwicklung der Polizei in kriminelle Aktivitäten, der Schulterschluss mit einem Verbrechersyndikat und der einsame Ermittler machen es zur „hardboiled“-Variante, wobei ich schon deutlich hartgekochtere Krimis gelesen habe – Gereon Rath ist letztlich ein Guter und auch das Präsidium der Polizei fortschrittlich und auf das Richtige aus, wenn auch in der Person des Präsidenten sehr politisch unterwegs. Noir also ist es nicht.
Unstimmig fand ich die Anfangsmotivation des neuen Kommissars in Berlin, eigene Ermittlung anzustellen. Wie in einer Schuljungenfantasie will Gereon es allen beweisen … Dabei hätte er nur ein wenig warten müssen. Die Berliner Polizei war bekannt dafür, dass alle in der Inspektion A lernen durften – zumal er vorher in Köln Kriminaler war. Psychologisch mag es sich erklären, dass Gereon Rath der Sohn des einflussreichen Kölner Leiters der Kriminalpolizei ist und sich selbst beweisen will, überzeugt hat es mich nicht. Aber das ist nur ein kleiner Punkt.
Oft werden die Motive für die Verbrechen nicht ganz klar und nicht komplett aufgeklärt, aber das macht es eher interessant. Insgesamt ist der Krimi fast vollständig aus der Sicht von Gereon Rath geschildert, nur ab und an gibt es einen Wechsel der Erzählperspektive, um Spannung zu erzeugen oder ein wenig anderes Kolorit zu vermitteln. Für mich war das noch sehr unsystematisch und deshalb erzählerisch nicht komplett gelungen. Ich hätte mir öfters gewünscht, Einblick in die anderen handelnden Personen zu erhalten, aber auch das hat meinem Lesespaß keinen Abbruch getan.

Berlin ist ein Dorf von Weltruf

Natürlich bietet ein Döblin (Berlin Alexanderplatz) und Erich Kästners Fabian (Vor die Hunde) deutlich mehr an Vielfalt über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Berlin und seine Atmosphäre, aber das waren auch Zeitgenossen. Kutscher hat diese Autoren gut gelesen und auch sonst viel historisches Material eingebracht.
Nicht immer entsteht in dem Roman ein stimmungsvolles Bild, wenn viele Straßennamen als Routen genannt und „korrekte“ Angaben zu Orten und Ereignissen gemacht werden. Tatsächlich hat mir mitunter das „echte“ Flair gefehlt, die Fantasie kein richtiges Bild von Berlin und seinen Verhältnissen gefunden. Aber die Gradwanderung, eine eigene Geschichte entstehen zu lassen auf dem Hintergrund einer historischen Kulisse, ist sehr gut gelungen, finde ich. Dafür bleiben einem endlose Detailbeschreibungen erspart, wie sie in anderen Romanen auch völlig übertrieben sind und nerven können.
Voll von geschichtlichen Fakten steckt der Roman bis oben hin. Die Maiunruhen 1929 („Blutmai“) beispielsweise sind szenisch eindrücklich umgesetzt: die starke Repressionen durch die Blauen (Polizei), das Demonstrationsverbot, Straßenkämpfe und Tote, alles vom Polizeipräsidenten Zörgiebel, angeordnet, was diesen wenige später seine Stellung kostete. Die erste Ampel am Berliner Platz, Baustelle am Alexanderplatz, Mordauto, die Berliner Kriminalpolizei mit dem berühmten „Buddha“ Ernst Gennat und dem jüdischen Vize Bernhard Weiß …  All dies und vieles mehr aus dem Roman ist historisch belegt und lässt sich gut recherchieren.
Dass die handelnden Personen sich in Berlin einige Mal fast zufällig über den Weg laufen, hat mich etwas irritiert. 1929 lebten in der Weltstadt über 4 Mio. und damit mehr Menschen als heute! Dann ist mir wieder ein Spruch von einem Berliner Freund eingefallen. „Berlin isn Dorf“ – man trifft sich tatsächlich an bestimmen Stellen immer wieder. Das ist typisch Berlin.

Babylon Berlin – Bilderflash ohne roten Faden

Die Metropole Berlin in den goldenen Zwanzigern ist zweifellos ein Mythos, der nach der großen Zerstörung 1945 eben nur noch aufwändig rekonstruiert werden kann. Und das leistet die Serie. Berlin brilliert in der ersten Hauptrolle. Die zweite Starbesetzung sind die toll inszenierten Alltagsszenen, von denen ich fast nicht genug sehen konnte, weil sie ein mächtiges, bewegtes Bild von Berlin erschaffen. Allein deshalb lohnt es sich, in die Serie von den Öffentlich-rechtlichen reinzusehen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass in einem Film viele der Figuren in ihrer Lebenswelt beleuchtet werden und weit mehr über sie „erzählt“ wird. Der Lockführer aus Rußland erhält so eine komplett eigene Geschichte im Film, während er in der Romanvorlage nur die „Leiche aus dem Landwehrkanal“ war.  Aber genau auf diesem Terrain zeigt sich auch der der größte Kritikpunkt von meiner Seite. Warum muss die Serie so dick auftragen? Grundlegende Konstellationen wurde komplett verändert und frei hinzuerfunden: Kommissar Gereon erlitt durch den Krieg eine posttraumatische Störung, die mit Morphin behandelt wurde und ihn abhängig, zum Junkie macht. Er hat seine Leben aufs Spiel gesetzt, um seinen vermissten Bruder zu finden, obwohl er ein Verhältnis zu seiner Schwägerin hat. Nach Berlin zur Sitte ist er im Auftrag seinen Vaters gekommen – der in Köln ein hoher Polizeibeamter ist –, um kompromittierendes Material gegen den Bürgermeistern von Köln, Konrad Adenauer (ja, der spätere Bundeskanzler!), zu suchen und dann zu unterschlagen. Der Gipfel von allem: Die Stenotypistin Charlotte ist im Nebenberuf Edelnutte und lässt sich von Gereons Chef missbrauchen. Nichts davon gibt es im Buch.

Abweichung von der Literaturvorlage – kein Problem. Heftige Charaktere – auch grundsätzlich kein Problem. Nur leider funktioniert es in diesem Fall nicht. Die Beziehungen unter den Akteuren wirken in der Serie grotesk, die Erzählung besteht nur noch aus Flashlights, die Handlung wird wirr und abstrus. Irgendwann in der zweiten Staffel hab ich aufgegeben: Der rote Faden war unauffindbar verloren.

Schade für die schöne Bild-Inszenierung – da hätte ein echter Dramaturg fürs Geschichten-Erzählen Not getan, um in dem bunten Reigen von (z.T.) international tätigen und renommierten deutschen Regisseuren ein wenig Linie reinzukriegen. Wer sich für die Zeit interessiert, für den entsteht ein tolles Panoptikum von Berlin in den Endzwanzigern des letzten Jahrhunderts. Wer gute Krimis vor historischer Kulisse mag, muss Babylon Berlin wirklich nicht gesehen haben – dann viel lieber den nassen Fisch und seine bisher acht Folgebände lesen, die interessanterweise jeweils in einem Jahr spielen (1929-1936) und die Entwicklung zur Katastrophe sehr gut dokumentieren.

J.C. Vogt Anarchie Deco

Selbstfindung in einem alternativen Berlin

Nur ein knappes Jahr früher, im Mai 1928, spielt die Erzählung Anarchie Deco des Autorenduos J. und C. Vogt und biegt auf dem Boden der historischen Szenerie ab in eine alternative Welt, in der man das Phänomen Magie bei einem physikalischen Versuch entdeckt.

Ermittlung und Entwicklung

Kaum ist die Magie in der Welt, werden zwei Morde damit verübt. Die Berliner Polizei holt sich für ihre Ermittlungen Unterstützung bei der Physikerin Nike, die sich „wissenschaftlich“ mit dem Phänomen beschäftigt. Da diese Magie nur in einer Dualität funktioniert von Mann und Frau, Wissenschaft und Kunst, muss der Bildhauer Sandor mit in das Team aufgenommen werden. Beide klären die Verbrechen als Teil einer „Magischen Kriminalpolizei“ (später „Inspection J“ genannt) auf und kommen einem großen Plan auf die Spur, der das gesamte Bild von Berlin verändern soll.
Auch andere Parteiungen wie die Anarchisten, Sozialisten, Kommunisten und Nationalisten, denen die Ermittler begegnen, würden die magische Macht gerne für ihre Zwecke einsetzen, so dass sich die politische Sprengkraft der historischen Zeit an dem fiktiven Phänomen „Magie“ recht realistisch zeigt.  „Zauberstäbe statt Panzerkreuzer“ (472, Slogan der SPD 1928: Kinderspeisung statt Panzerkreuzer) steht auf dem Wahlplakat der SPD, die Anarchisten verteilen Anleitungen zur Magie für jedermann und die Nationalsozialisten experimentieren mit ihren ersten Wunderwaffen für die Kriegsvorbereitung.
Bei ihrer Arbeit taucht das Team Nike und Sandor zudem tief ein das Nachtleben von Berlin, wobei Verstrickungen und amouröse Begegnungen inbegriffen sind. Überhaupt erlebt man die ganze Geschichte vor dem Hintergrund einer kantigen Wissenschaftlerin, die ihre Rolle als Frau und Mensch in der männerdominierten Gesellschaft sucht und ihre erotischen Gefühle für das gleiche Geschlecht nur zaghaft zulässt, aber vieles von ihrer sourveänen Geliebten lernt.
Während am Anfang die Aufklärung der Morde und die weitere Entdeckung der Magie im Zentrum stehen, geht der Roman im Mittelteil in die Breite, was das soziale und sexuelle Leben ihrer Figuren betrifft, um dann in einem sehr langen und fantasytypischen Showdown der magischen Kräfte zu enden.

Jeder Part für sich wäre als ganzer Roman spannend gewesen, der Mix allerdings hat mir Probleme bereitet. Ich hab den Faden bei den Mordermittlungen komplett verloren, mich über prickelnde Szene im Leben von Nike wie auch über das fein gezeichnete historische Berlin gefreut, und die Magie wie auch den Schluss nicht wirklich verstanden. Und das, obwohl ich einige Teile mehrfach gelesen habe … Irgendetwas ist nicht ganz rund für mein Gefühl.

Probleme mit meiner Rezension

Die Rezension fiel mir extrem schwer, weil ich zwiegespalten bin. Das Buch ist endlich mal ein Urban Fantasy, der vieles bietet, was ich mir absolut zusagt: ein weit ausgearbeitetes historisches Setting (Berlin 1928), die Genregrenzen zu Krimi und Entwicklungsroman (mit Comming-out) spielend erweitert, einfühlsam geschriebene Liebesszenen zwischen Gleichgeschlechtlichen, Magie unerklärlich aus der Physik abgeleitet und sogar eine manchmal fast poetische Sprache. Das ist eine wunderbare Mischung, die großen Respekt verdient.
Aber: Komischerweise hat es mir keinen richtigen Spaß gemacht, das Buch zu lesen. Seltsam, oder? Ich fürchte, es liegt vor allem daran, dass es Fantasy ist und dass entsprechende Genreelemente in dieses interessante Buch oft so gar nicht passen wollten, die Melange für mich sogar verdorben haben. Meschugge, wie der Berliner sagen würde. Denn eigentlich bin ich ja der Fantasy-Fan.
Ich versuche mich zu erklären.

Vom Zeitgeschehen zur Alternativwelt

Magische Detektivarbeit kennen wir bei Urban Fantasy schon reichlich (etwa: Jim Butchers Harry Dresden, Ben Aaronovitchs Peter Grant, Torsten Weitzes Grayson Steel). Und das Lokalkolorit der Berliner Polizei wirkt stark an das von Kutscher (s.o.) angelehnt. In der Hinsicht ist Anarchie Deco sicher nicht originell. Neu ist jedoch, im Berlin der 20er Jahre einzusetzen, die historische Kulisse um einen phantastischen Faktor zu erweitern und die geschichtliche Situation aufgrund dieses verändernden Parameters neu weiterzuspinnen.

Das historische Zeitgeschehen ist in vielen Elementen sehr eindrücklich eingefangen. Viele Details, jede Menge  Personen  der realen Geschichte, Größen der Berliner Wissenschaft wie Walter Nernst, Albert Einstein u.a. und Vertreter der Staatsmacht in der Roten Burg (Polizeipräsident Zörgiebel, „Buddha“ Ernst Gennat u.a.), die wir schon aus Volker Kutschers Romanen kennen. Toll recherchiert! Nur als Beispiel: Ironisch wird die Polizei „Dein Freund und Helfer“ (124) genannt, ein Slogan, den der preußischen Polizeipräsident und Innenminister Grzesinski 1926 als Motto der Polizeiarbeit ausgab.
In seiner Qualität als historischer Roman mit Tendenz zur Alternativwelt finde ich Anarchie Deco sehr hochwertig. Anderes hat mir, wie bereits erwähnt, weniger gefallen …

Überkonzeptionalisierung und Geistessprühen

Für mich ist in vielen Passagen des Romans spürbar, dass die Autor:innen von konzeptionellen, fast intellektuellen Ideen getrieben sind, was ich natürlich sympathisch finde. Eines davon ist die Entdeckung und Verbreitung von Magie, die komplex aus der Physik und Kunst abgeleitet wird. Das andere ein feministischer Anspruch, der die Rechte und Unterdrückung der Frau in vielen Varianten veranschaulichen will.
Beides sind jeweils hochinteressante Themenkomplexe, die sich aber in vielen Szenen so unverschämt in den Vordergrund drängeln, dass die Geschichte an Glaubwürdigkeit und auch an erzählerischer Finesse verliert. Immer wieder wird man mit der Nase direkt darauf gestoßen und das tut dem literarischen Vergnügen erheblichen Abbruch. Verteidigend will ich hinzufügen, dass ich es nie als plump oder platt empfunden habe, wie hier die Themen mit der Handlung verquickt werden, aber doch als unangenehm dominierend.
Magie wird im Universum der Physik mit vielen theoretischen Untermauerungen verortet, ordentlich Wissenschaftsprominenz aufgefahren und mit Zitaten belegt. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb bleibt sie ein Fremdkörper, war für mich nicht richtig greifbar, technisch und ohne Leben und Verbindung zu den handelnden Personen. Eine Idee, dass sich darin der Dualismus der Welt widerspiegelt, dass man nur in den Gegensätzen zu etwas Neuem kommen kann – alles hoch philosophische Gedanken, die ich aber nicht in der konkreten Erzählebene in gleicher Weise erlebt habe.
Die feministischen Tendenzen haben mich weniger gestört, obwohl ich schon bei der Einleitungsszene dachte: Wer solch eine gigantische Entdeckung gemacht hat wie Nike und dies vorführt, beschäftigt sich kaum mit dem „Sitz ihres Scheitels“ und ob Männer sich auch darüber Gedanken machen würden. Das ging mir an anderen Stellen ähnlich. Insgesamt aber fand ich die Dialoge und Handlungen sehr nahe an den vielen emanzipatorischen Strömungen dieser besonderen Jahre in Berlin.
Weniger kann bekanntlich mehr sein. Die häufigen Szenenwechsel erschweren es, in die Situation reinzufinden. Die Inspiration von realen Gegebenheiten flossen ausführlich ein, obwohl sie im Moment des Erzählens gar nicht relevant, sogar fast störend für die Stimmung sind. Und so ist oft ein Getriebensein von tausend Ideen zu spüren, ein Geistessprühen, das mich in der Fülle überfordert und ausgebremst hat – Breite und Sprühen statt Fokussierung und Eleganz. Schade, denn es gibt einfach wunderbare und poetische Stellen, die ich sehr genossen habe, und dann bin ich immer wieder abgestürzt in irgendeines der vielen Luftlöcher.

Magischer Showdown als unrühmlicher Abschluss

Am wenigsten beeindruckt hat mich der magische Showdown. Für Genreliebhaber sicher ein sine-qua-non. In diesem vielschichtigen Roman aber wirkt das Ende auf mich wie ein unmotiviertes Anhängsel (von fast 50 Seiten). Ohne zuviel zu verraten: Die Bösewichte sind völlig unerwartet in der Magie schon sehr viel weiter als alle anderen, haben ein großes Monument der Macht errichtet, mit dem sie aus narzisstischen Gründen und erbarmungslos Berlin mit Schrecken überziehen. Natürlich mit Hilfe der Nazis …
Wie das Team Nike & Co. diese Untaten stoppt ist eine Mischung aus Deus-Ex-Machina (eine bisher kaum in Erscheinung getretene Person taucht unvermittelt helfend auf) und einer plötzlich tiefen Einsicht in das Wesen der Magie mit heroischem Abschluss (Nike setzt sich selbst unter Strom und durchbricht das Muster). Alles sehr strange und wirklich nur für genreafine Leser geeignet. Jeder Krimileser muss sich hier die Haare raufen – entgegen der Werbung also für Fans von „Babylon Berlin“ ganz sicher ungeeignet.
Ich verstehe, warum dieses Ende als Tribut an die Leserschaft sein musste, und es ist nach Kriterien des Genres auch typisch und insofern nicht schlecht. Aber passt es zu der Komplexität?
Nach dem Showdown werden noch einmal mögliche Linien aufgezeigt, in welche Richtung sich die Verhältnisse in Berlin entwickeln könnten. Da war ich wieder dabei, denn das ist es, um was es in dem Roman ging: ein alternatives, wundersames Berlin.

Trotzdem: Unbedingt lesen!!

Es passiert mir immer wieder, dass mir Bücher beim Lesen keinen richtigen Spaß machen, obwohl ich Hochachtung vor dem empfinde, was dort geschaffen wurde. So auch mit Anarchie Deco: Es ist ein wirklich sehr bemerkenswerter Roman, der Genre-Grenzen sprengt, ein filigranes und zugleich buntes Bild des Berlins im Jahr 1928 entwirft, emanzipatorische Bestrebungen der Zeit schlaglichtartig hervorhebt und Realwelt und Fantasyelemente in eine interessante Alternativwelt führt.
Wir brauchen mehr von solchen Büchern in der Fantasy. Mein Hochachtung – trotz aller Kritik – für das Autorenduo Vogt.
Bitte lest dieses Buch! Es ist besser als die meisten im Genre, wenn auch nicht so schön gefällig wie der Mainstream. Keine Orks und Elfen, dafür ein Stück deutscher Geschichte mit magischem Flair.

 

Kutscher Vogt Vergleich

Berlin am Scheidepunkt

Man spürt es beiden Romanen an, wie es in Berlin brodelt, wie sich Dinge anbahnen, die schwere Folgen für die ganze Welt haben werden. Genau deshalb sind die Schlaglichter so spannend, sei es als Kriminalstudie, die bunte Facetten der Gesellschaft zeigt, oder als eine Alternativwelt, in der sich ein Wendepunkte zu einer magischen Durchdringung vollzieht und Neues möglich wird.

Volker Kutschers Krimi Der nasse Fisch zeichnet ein konturiertes Bild der Berliner Verhältnisse und erzählt eine spannende Mordermittlung vor historischer Kulisse, nicht immer atmosphärisch, aber sehr gut vorstellbar, präzise und interessant, manchmal in einer etwas schwerfälligen Sprache. Obwohl die Hauptperson sich als „unpolitisch“ bezeichnet, wird die sich verdüsternde politische und gesellschaftlich Stimmung in Berlin sehr gut vermittelt.

Tiefer in die das Lebensgefühl der Zeit dringt an manchen Stellen Anarchie Deco des Autorenpaars J.C. Vogt ein, weil wir die Lebenssituationen mehrerer Menschen aus ihrer eigenen Perspektive kennenlernen und das Bild auf diese Weise bunter wird. Für mich war das Buch eine unstimmige Melange, die viel wagt und Tolles schafft, geistreich vor Einfallsreichtum sprüht, aber zuviel will und die Magie nicht richtig als etwas Natürliches in der Welt des historischen Berlins platzieren kann. Aber sie vermittelt immerhin die Hoffnung, dass es mit ein wenig Veränderung auch anders hätte ausgehen können.

 

VOLKER KUTSCHER: Der nasse Fisch. Gereon Raths erster Fall, KiWi 2017 (2008), 543 Seiten

J. C.  VOGT: Anarchie Deco, Fischer TOR 2021, 538 Seiten

 

Weiterführende Links:

Eine tolle historische Karte zu den Berliner Schauplätzen in Volker Kutschers Romanen
wunderbarer Originalfilm (1927): „Berlin – Symphonie einer Großstadt“| von Walther Ruttmann
Interview mit dem Autorenduo Vogt im PHANTAST 26 ab Seite 35
➛ durchweg positive Rezensionen zu Anarchie Deco: rezensionsnerdista,noosphaere, minzgespinst

 

 

Sie zündete den Gasherd an und stellte einen Wasserkessel auf die Kochstelle. „Manchmal könnte man glauben, es gibt mehr Russen als Deutsche in dieser Stadt“. „Manchmal habe ich den Eindruck, es gibt sowieso viel zu viele Menschen in dieser Stadt“, sagt er. (42 f.)

Zwecklos, diesen Hornochsen in Uniform die Methoden moderner Polizeiarbeit nahezubringen. Diesen Preußen war es immer noch wichtiger, am Tatort erst einmal Ordnung zu schaffen, statt Spuren zu sichern. (59)

Er würde dem Polizeipräsidenten ein gelösten Fall auf den Tisch legen. (94)

Über Wolters Verhältnis zur Wahrheit musste Rath noch nachdenken, als er nach Dienstschluss in einem Café in der Tauentzienstraße saß, einen ganzen Stapel Zeitungen vor sich auf dem Tisch. (….) eigentlich war es undenkbar, als Polizeibeamter gegen die Polizei auszusagen. Dann könnte er gleich einpacken. Er würde sich wohl damit herausreden, nichts gesehen zu haben. Und hatte jetzt schon keine gutes Gefühl dabei. (103)

„Drei Tage lang ging es in einigen Arbeitervierteln zu wie im Bürgerkrieg. Und das nur, weil euer Polizeipräsident den Kommunisten zeigen wollte, wer im roten Berlin das Sagen hat. Ein kleiner Machtkampf zwischen staatstragenden und staatsfeindlichen Roten, für den er den Polizeiapparat missbraucht hat. Und Tote in Kauf genommen.“ (132)

Mittlerweile hielt er alles für möglich, das Schicksal hatte manchmal einen seltsamen Sinn für Humor. (259)

VOLKER KUTSCHER: Der nasse Fisch. Gereon Raths erster Fall, KiWi 2017 (2008)

 

Die duale Magie – ein Zusammenspiel von Kunst und Wissenschaft, Mann und Frau. (S. 14)

(…) Gerüchte fingen an, die Runde zu machen, dass eine ganz neue Dimension von … Tricks und Illusionen möglich ist. Erst hieß es, das sei Bühnenzauberei, dann sagten die Leute, es käme von den Babelsberger Studios, schließlich behaupteten die ersten Betrunkenen, dass man Leute verzaubern könnte, wäre einfach immer unter Verschluss gewesen und käme jetzt heraus. (S. 125)

Diese verdammte Stadt, diese verdammte Welt. Wenn Frauen wie Mama endlich schreien würden, würde allen Elendsviertel dieser Welt zerbersten, und die Scherben würden auf die Villen der Bourgeoisie regnen. (S. 175)

„In Berlin liegt einiges im Argen, und einiges ist merkwürdig.” (S. 187)“

„Solche eine Umwandlung ist aber … sehr unwahrscheinlich“, sagte Einstein (…). „Ich sagte dir ja bereits, Fräulein Wehner und Herr Černý haben beeindruckende Ergebnisse vorzuweisen. Albert. Wir werden unser Verständnis über einige fundamentalen Prozesse revidieren müssen“ (S. 400)“

Bald sind Wahlen, die Stadt hängt voller Plakate, die die deutsche Familie vor dem Golem warnt oder der Magie der Eliten oder der magischen Macht der Bolschewisten oder was weiß ich. Berlin fühlt sich an wie ein Pulverfass.“ (462)

J. C.  VOGT: Anarchie Deco, Fischer TOR 2021

 

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