Vatersuche: Berlin – Istanbul

Lesedauer: 7 Minuten
Deniz Selek: Aprikosensommer

Vatersuche: Berlin – Istanbul

Deniz Selek: Aprikosensommer

Ich und ein Jugendbuch, und dann auch noch für Mädchen – das passt gar nicht.
Passt eben doch. Und deshalb schreibe ich darüber.
So sehr es mich stört, dass fast das komplette phantastische Genre okkupativ vom Teenager-Geschmack bestimmt wird, kann ich ein ehrliches Jugendbuch mit großem Vergnügen lesen, zumal wenn es sich kulturübergreifend gibt und von der Autorin mit einem brennenden Herzen geschrieben ist.
Fragt mich nicht, wie ich zu dem Aprikosensommer gekommen bin … wahrscheinlich war´s wieder der Tauschkorb vor der Kirche, der mich schon des Öfteren mit Büchern weit ab von meinem beschränkten Lesehorizont beglückt hat.
Der Titel ist übrigens ein uneingelöstes Versprechen auf die Zukunft – denn in Istanbul ist weder Sommer noch sind die Aprikosen reif, als Eve in die Stadt der verlorenen Liebe ihre Mutter kommt … Aber der Reihe nach.

Fünfzehn …

… ist kein leichtes Alter. In Berlin schon gar nicht, mit nur einem Elternteil, der Mutter. Der Freund macht Schluss, Spott und Häme inbegriffen im Kreuzberg-Slang („Is egal, Mann. Nimmst du Cengiz!“, 12). Die beste Freundin Henny nervt mit dummen Fragen. Dann ist alles zu viel: Eve spießt sich mit dem Werkmesser im Kunstunterricht die Hand auf … fällt um, Mutter kommt, Arzt, „Scheißegaltropfen“. Wäre es jetzt nicht gut, einen Vater zu haben, sinniert die Freundin. – „Was sollte der mir den schon bringen?“ (39).  Vaterkomplex? Ist doch alles Quatsch. Doch als ihr Ex zusammen mit ihrem Vater in einem Traum herumgeistert, ist Eve alarmiert …
Manchmal lapidar, dann wieder Teenie-intensiv – ich war schnell in dem Kopf des jungen Mädchens drin und habe ihre Weltsicht und ihre Sehnsucht geteilt. Schön gemacht. Zermürbende Selbstzweifel, Anfälle von Aktionismus, Tränen und Zorn, unbeholfenen Gespräch mit der besten Freundin, Beobachtungen über die Peergroup und ihr Berlin …

Eine große Sehnsucht …

Eve kannte ihren Vater nicht. Ihr Mutter hatte ihr nie etwas von ihm erzählt. Nur den Namen. Und es gibt ein leerer Bilderrahmen mit eingravierten Aprikosenblühten vom türkischen Trödler. Ein Platzhalter, der jetzt irgendwie gefüllt werden muss. Abwehr gegen viele Fragen bei der Mutter inbegriffen. Eve bleibt teeniehaft bockig: „Ich will nur wissen, von wem ich abstamme“ (47), bis ihre Mutter weich wird und ziemlich viel erzählt:
Urlaub, Istanbul, 18, verliebt in einen jungen türkischen Mann, kräftige Wimpern, interessant und fremd, versprochen … Zuhause: Schwangerschaftstest positiv und zu viele Vorurteile in der eigenen Familie gegen Türken, um dem ganze eine Chance zu geben, alles alleine gemacht, Studium geschmissen, Anzeigenverkäuferin geworden …
Mit einem Mal verseht Eve, wie alles in ihrem kleinen Dasein zusammenhängt, die Affären ihrer Mutter, ihr Schweigen, der Kampf für die Tochter. Das ungelebte Leben ihrer Mutter weckt die riesengroße Sehnsucht in Eve, aber das macht es ihr nicht leichter mir ihrem Alltag.

Die eigene Suche …

Alltag, Gespräche, Alltag bis es auf eines hinausläuft: „‚Wir suchen ihn.‘ Mein ganzes Leben in drei Worten.“ (118). Es hatte alles seinen Sinn. Nichts war egal“.

Der Beschluss, die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen, beschwört bei Mutter und Tochter eine so positive Energie herauf, dass es ein wahre Freude ist, die beiden bei ihren Plänen zu begleiten. Auch wenn alles vorausschaubar war, ich habe mitgefiebert, weil es etwas zutiefst Rührendes hat, einen Teil von sich selbst zu suchen und dann auch zu finden.
Natürlich gibt es noch ein paar Hindernisse, bis Eve ihrem Vater in Istanbul begegnet und auch sonst ist nicht alles einfach nur gut wie in einem billigen Roman. Die Geschichte ist genau richtig hoffnungsvoll und mutmachend, ohne plump zu werden. Und auch, dass Eve sich in einem Jungen verguckt, der sie durch den Istanbuler Bazar führt, passt ins Bild.
„Hinter unserem Leben in Deutschland hatte sich ein weiteres aufgetan, eine eigene fremde Welt“ (282).

Wen wundert, dass die Autorin selbst in zwei Welten aufgewachsen ist, am Bosporus und in Hannover, eine „waschechte Halb-Türkin“ (wie sie von sich selbst sagt). Die Jahre ihrer frühen Kindheit in Istanbul müssen einen Zauber im Herzen von Deniz Selek bewahrt haben, dessen magische Kraft sich mühelos in ihren Büchern entfaltet: Immer handeln sie von deutsch-türkischen Geschichten. 

Deniz Selek: Die Frauen vom Meer

Deniz Selek: Die Frauen vom Meer (2017)

Der Drei-Generationen Roman liest sich komplett anders als das Jugendbuch, was selbstverständlich sein sollte, es aber nicht bei allen Autor*innen ist, die in beiden Bereich unterwegs sind. Das dezent mystische Flair baut sich stärker aus, denn die Geschichten von drei Frauen zwischen 1922 bis 1999 werden von einer geisterhaften Vatersuche umrahmt. „Wo bist du die ganze Zeit geblieben, Baba?“, fragt die 75-jährige Ferah mit schweifendem Blick über die Marmara-Bucht. „Ich habe dich so vermisst“ (16).  Der Vater, der sie nur als kleines Kind kennengelernt hat, tritt zu ihr und beide erzählen sich, was sie nicht voneinander wissen konnten – so das Setting des Buchs.

1. Seza – Rumänien 1922/23

Der bulgarische Kapitän Sercan hat sich mit der Tatarin Seza aus einst reichem Haus im rumänischen Köstence niedergelassen. Das Leben ist nicht leicht, Seza muss den Hausstand mit der Tante ihres Mannes und deren irgendwie sonderbarem Kind teilen. Ihr Mann ist immer wieder auf Fahrt und sie muss die gemeinsame kleine Tochter Ferah fast allein großziehen. „Wenn ich das nächste Mal komme, (…) kaufe ich uns ein Haus“ (32) verspricht der Seemann. Doch es wird nie dazu kommen. Er bleibt aus, Seza sucht ihn verzweifelt, reist ihm nach und landet nach vergeblichen Versuchen in Istanbul, wo sie schließlich neu heiratet. Dass ihr Mann, der Vater von Ferah, nicht gestorben ist, sondern zu der Frau in Bulgarien geht, die er zuvor geheiratet hatte, erfährt sie nie …

2. Elisabeth – Berlin/Istanbul 1942/44/67/69

Luftalarm über Berlin und Geburtswehen – ein persönliche Katastrophe, die Julie nur knapp überlebt; Geburt der Tochter Elisabeth, dann „Landverschickung, eine himmelschreiende Begegnung mit einem KZ-Zug; Eintreffen bei der alt und müde gewordenen Mutter in der pommerschen Kleinstadt an der Ostsee. Der Schock: ihr Mann, einst ein liebenswerter, „belesener Feingeist“ (149) kommt verwildert auf Heimaturlaub von der Front, züchtigt das Kind Elisabeth … und es kommt zum tragischen Unfall.
In Berlin verliebt sich Elisabeth 1967 in den türkischen Architekten Haldun, Sohn von Ferah, heiratet ihn, Reise nach Istanbul – und erlebt die kulturellen Differenzen: „Dieser Haldun war nicht der Mann, den Elisabeth in Berlin kennengelernt hatte“ (208), in manchen gut (Geborgenheit in der Familie), in vielem fremd (als Frau nicht allein ausgehen). Nach der Geburt von Ilayda zieht sie trotzdem mit ihrem Mann nach Istanbul, kommt mit der Situation nicht zurecht, magert ab … und sehnt sich nach Berlin, in das beide nach zwei Jahren wieder zurückgehen.

3. Ilayda – Berlin/Istanbul 1973/84/97/98

Als Baby in Istanbul geboren, zieht Ilayda nach kurzer Zeit wieder nach Berlin, begehrt gegen ihre zerstritten Eltern und gegen das langweile Deutschland auf, überschminkt sich, stiehlt und findet mit Fünfzehn einen Teil ihrer verschütteten Kindheit in Istanbul bei ihrer Großmutter Ferah wieder. „Ilayda war ein bunter Schmetterling, der von einem zum anderen flatterte, hübsch anzusehen und in ihrer Art interessant und begehrenswert, aber auch flüchtig und sprunghaft.“ (340). Sie macht dies uns das, mitunter erfolgreich, und berappelt sich, als sie schwanger wird. In einem schön hergerichteten Bauernhof auf der Anhöhe von Kap Anamur, treffen sich die drei Generationen von Frauen … unterschiedlich, aber am Meer miteinander vereint.

Das Meer und die fremde Heimat

Allein, dass ich das geballte Geschehen für mich noch einmal in dieser Weise sortieren musste, um es im Kopf zusammen zu kriegen, zeigt, dass ich als Leser mit unglaublich viel konfrontiert wurde, für mich fast mit zu viel. Nicht alle Episoden haben mich deshalb in gleicher Weise bewegt.
Das Schicksal Ferahs und ihrer Mutter, blieb fremd, weit weg, interessant, aber nicht richtig fassbar, trotz des gut gelungenen Versuchs über Symbole (Rosenduftwasser) und Beschreibungen etwas von der historischen Zeit einzufangen. Die Geschichte Elisabeths ist beeindruckend, deutsche Biederkeit und Kriegsdrama, Begegnung mit dem Fremden in ihrem Mann und in der Türkei, aber in so viele Einzelepisoden zerteilt, dass die innere Entwicklung nur schwer nachzuvollziehen war. Direkter und weit mehr auf die psychologische Charakterbeschreibung ausgerichtet, ist Ilayda, vielleicht auch ein guter Teil der Autorin selbst und deshalb sehr nahe.
Das Meer, Titelgeber und immer wieder heraufbeschworen als Symbol, ist das Verbindungsstück, „die Brücke (…), der Steg, das Seil, die Verbindung zwischen den entgegengesetzten Polen“ (339), die Suche nach der Heimat und der Sehnsucht nach der Fremde …  

Die Erzählweise ist nicht überfrachtet, auch nicht mit großen Symbolen (außer dem Meer) übersinnhaft ausgestaltet, was sich sehr schätze, aber oft zu viel reingepackt, ohne dass ich alles gleich innerlich für mich sehen und verarbeiten konnte.
Trotz dieser Kritik und der verwirrenden Dichte (manches habe ich zwei Mal oder mehr gelesen!) sind einige Szenen als Stimmungsbilder bei mir haften geblieben. Und das ist viel. Auch der Kontrast zwischen Deutschland und der Türkei in den 60ern/70ern wurde plastisch. Wieviel Mut es doch erforderte, die Brücken zwischen beiden Ländern und Kulturen langsam aufzubauen.
Ich bin dankbar für diese Eindrücke.

Nach einem weiteren Roman („Die Farben im Spiegel“, 2017) wird es still um die Autorin. Vielleicht, weil das eigene Glück in der Familie verloren ging und damit die Kraft ihrer Bücher? Ich meine, so etwas gehört zu haben. Vielleicht muss ich einfach mal Kontakt mit ihr aufnehmen, oder weiß jemand von euch mehr darüber?
Und wie findet ihr Deniz Seleks Bücher?

 

Deniz Selek: Aprikosensommer, Fischer Kinder und Jugendbuch Verlag 2015, 283 Seiten.
Deniz Selek: Die Frauen vom Meer, Droemer 2017, 398 Seiten.

 

Hintergrundinfos:
Die Webseite der Autorin, Interviews und ihre Bücher
Wiki-Seite zu Deniz Selek

Deniz Selek: Aprikosensommer

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