Eine gescheiterte Revolution

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Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland

Eine gescheiterte Revolution

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland

1933 schreibt Ernst Toller seine Autobiographie im Exil und blickt mit seinen 40 Jahren bereits auf ein ereignisreiches Leben zurück: Kindheit im preußischen Posen, Studium in Frankreich, Soldat an der Front, Mitglied im Revolutionsrat in München, 5 Jahre Inhaftierung wegen Hochverrat, Erfolg als Dramatiker und Schriftsteller, Bücherverbrennung und Emigration …
Sein Tod am 22.05.1939 in New York jährt sich heute.
Der Rückblick auf sein Leben liest sich spannend wie ein Histokrimi, weil er in Ausschnitten sehr detailreich, auf den Punkt genau die zeitlichen Geschehnisse am eigenen Leib erfahren erzählt und sich dabei mit kritischer und fast ironischer Selbsterkenntnis nicht zurückhält. Schwerpunkte sind der 1. Weltkrieg, die nur vier Wochen andauernde Räterepublik, Verurteilung und Haft (bis 1924).
Und immer wieder geiselt er den Judenhass, der sich schon als erste Kindheitserinnerung in seiner preußischen Heimatstadt in Posen zeigt, obwohl ihm selbst seine jüdische Abstammung nie etwas bedeutet hat, die Juden sich in ihrem eigenen Selbstbild – berechtigt, aber grotesk – als „Pioniere deutscher Kultur“ (13) verstanden.

Freiwilliger im Wahnsinn

„In den Feuilletons der Zeitungen sind die Franzosen eine degenerierte Rasse, die Engländer feige Krämerseelen, die Russen Schweine“ (62) – keine Wunder, dass der Freiwillige Ernst Toller 1914 wie alle glaubt, die Deutschen wären überlegen und der Krieg schnell gewonnen. Die Realität war furchtbar anders. Er sieht „die Toten“, egal welcher Nation. Knapp 2 Jahre später kann er an keinem Toten mehr unberührt vorbeischauen: „wer warst du, frage ich, von wo kommst du, wer trauert um dich“ (65). Das Leid des Krieges, das er knapp durch eine Verwundung, die ihm die Kriegsuntauglichkeit einbringt, übersteht, lässt ihn zum feurigen Pazifisten werden.

Das Volk ist unvorbereitet …

Kriegsende in München. Ernst Toller studierte dort und sympathisierte mit dem linken Spartakusbund. Er will die radikale Abkehr vom alten System, doch die Republik in Berlin macht Kompromisse mit den Nationalen und Kaiserlichen, hasst die Arbeiteraufstände, ängstigt sich vor der Revolution. Das kann es nicht sein … Räte bilden sich überall, rufen in München am 17. April 1919 die Räterepublik aus, Toller mitten unter ihnen. Was alles in den nur 4 Wochen schief läuft, schildert er ausführlich, sympathisch und vielleicht realistisch. Letztlich scheitert die Münchner Version der nahezu friedlichen Revolution an fast allem, der Versorgung, Organisation, Führung – und weil niemand eine Vorstellung davon besitzt, wie die Herrschaft des Volkes funktionieren soll, zu sehr sind alle Gehorsam und Unterordnung gewohnt …
Die Rache des Establishments ist blutig. Die eigentlich republikanische Landesregierung Bayerns engagiert Freicorps, rückt gegen München vor und lässt die meisten Revolutionäre ermorden, sprich standrechtlich erschießen. Aufgrund von Glück und Reputation wird der preußische Revolutionäre lediglich gefangen genommen.

Das rechte Auge ist blind in Weimar und München

5 Jahre saß E. Toller in Haft wegen Landesverrat – auf Grundlage welchen Rechts, fragt man sich. Die Münchner Richter, durchweg Monarchisten, haben ihn 1919 nach der wilhelminischen Verfassung angeklagt und verurteilt, die doch im August 1919 durch die Weimarer Verfassung außer Kraft gesetzt wurde und Meinungsfreiheit und demokratische Wahlen garantierte. Der gesunde „Menschenverstand (…) begreift, dass der Hochverratsparagraph dieses Gesetzbuchs die Monarchie schützen sollte und die Monarchie längst entthront ist “ (168). Eine  Räterepublik der Kommunisten galt jedoch auch der neuen Republik als verdammungswürdig, obwohl gerade in München die Kommunisten nur einen Teil der Räte stellten …

Wegen seines schriftstellerischen Erfolgs in Berlin, in dem Tollers Stück Die Wandlung allerorten gespielt wird, gewährt man ihm schnell eine persönliche Amnestie, die er jedoch ablehnt. Denn während die Republik in Berlin großmütig 1920 eine Amnestie für alle „hochverräterischen Unternehmungen“ dieser Zeit gewährt und dabei vor allem die von rechts im Blick hatte, bleiben viele sozialistische Täter in Haft. Im tief rechten Bayern gar, lehnt man dieses Gesetz ab – Toller muss seine 5 Jahre vollständig absitzen, wogegen Hitler, 1923 ebenso wegen Hochverrats in München zu 5 Jahren verurteilt, nicht einmal ein Jahr in Haft blieb.
Die Schicksale seiner Zellengenossen sind in Anekdoten festgehalten und interessant zu lesen. Ein nettes Detail auch, besonders aus dem Blick unserer modernen Medienwelt, dass die Fotografien bei Haftaufnahme gezielt von der Justiz verändert und retuschiert wurden (Sozialistenmütze, schwulstige Lippen, dunkle Augen), um dem Bild eines Verbrechers typischer zu entsprechen …
Von den Jahren nach 1924 berichtet Toller nichts, obwohl er als Dramaturg und Schriftsteller in Deutschland sehr geschätzt wurde, bis die Nazis an die Macht geraten, den „Roten“ und Pazifisten hassen, seine Bücher verbrennen …  Er sah die Katastrophe mit wachem Auge und mahnenden Worten kommen wie kaum ein anderer, weshalb er sofort emigrierte.

Was hat die Welt gelernt?

Als 1939 auch in Spanien die Faschisten die Macht übernehmen, verliert Ernst Toller seinen Lebensmut. Haft und Kriegstraumata haben schwere Wunden in seiner Seele hinterlassen und er deutete bereits 1933 an, dass die Sehnsucht nach dem Tod wächst („Todesgedanken beschatten meine Nächte“ 212) – man würde es heute Depression nennen. Am 22. April, 6 Jahre nach seiner Autobiographie, deren Ende noch ein wenig hoffnungsvoll klingt, erhängt er sich. 

Immer wieder prangerte Ernst Toller die Vorurteile wegen Geburt oder Nation an, dem schon der preußische Staat in allen Institutionen Vorschub leistete. Sie sind zäh – wie Blut will man fast sagen – und überdauern mehr als ein gutes Jahrzehnt. Die Phase der Republik war viel zu sehr geprägt von Unruhen und Extremismus, als dass eine neue Generation hätte heranwachsen können, welche die Vorurteile ihrer Väter und Mütter überwindet. 

Ein Satz von Ernst Toller wird ihn hoffentlich sehr lange überdauern, weil er einer zutiefst menschlichen Haltung Ausdruck verleiht, die jeglichem Nationalismus wehrt und einfach wunderbar ist.

Eine jüdische Mutter hat mich geboren, Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland!“ (207)

Trotzdem will ich damit nicht schließen. Denn in dem Jahr, als Ernst Tollers Bücher verbrannt werden und seine Autobiographie erscheint (1933!), ist die Tragödie in Deutschland noch lange nicht zu Ende. Der scharfe Beobachter sieht es voraus …

„Die Barbarei triumphiert, Nationalismus und Rassenhass und Staatsvergottung blenden die Augen, die Sinne, die Herzen. (…)
Überall der gleiche wahnwitzige Glaube, ein Mann, ein Führer, der Cäsar, der Messias werde kommen und Wunder tun. (…) Überall der gleich wahnwitzige Wunsch, den Schuldigen zu finden, der die Verantwortung trage für vergangene Zeiten, die eigenen Fehler, die eigenen Verbrechen (…).
Der Arzt weiß, dass im Menschen, (…) der nicht ein noch aus weiß, planlos verharrt, weglos herumirrt, Todeswünsche erwachen. (…) An dieser schweren Krankheit leidet das alte Europa. Im Tornado des Krieges, der mit steigenden Rüstungsaktien drohend sich kündet, stürzt sich Europa in den Abgrund des Selbstmords. (…)
So war alles umsonst (…)?“ (216 f.).

Fazit

Obwohl Ernst Toller seine Autobiographie „Eine Jugend in Deutschland“ nennt, spiegelt sie eine ganze Generation und ihre tiefe Verunsicherung am Übergang von der Monarchie zur Diktatur in der kurzen und schwierigen Zeit der Weimarer Republik. Wer verstehen will, wie die Menschen dachten und fühlten, wird sehr viel Interessantes finden.
Das Buch ist leicht zu lesen, schwer zu fassen und hart zu verdauen.

Ernst Toller: Eine Jugend in Deutschland. AuraBooks 2019 (1933), 218 Seiten (bei der Ausgabe habe ich beim Kauf nicht aufgepasst – ist ein Reprint über Amazon, aber quellentechnisch völlig in Ordnung).


Weiterführende Links:

Ernst Toller auf Wiki
Informationen der Ernst Toller Gesellschaft e.V.


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Sophie Bonnet: Provenzalische Täuschung
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