Warnung vor dem Abgrund

Lesedauer: 5 Minuten

Erich Kästner (1931):
Fabian. Die Geschichte eines Moralisten
(oder)
Der Gang vor die Hunde

Vielleicht mein Lieblingsbuch“ steht als Widmung von Martina in meinem Exemplar von 1995. Gilt für mich inzwischen auch. Ich habe es mir „einverleibt“ wie von dir anempfohlen und das feine Buch immer und immer wieder gelesen. Nur dich, Martina, habe ich seither nicht wiedergesehen. Wo steckst du?

Von Moral und Überzeichnung …

Man kann das Buch ja ganz unterschiedlich lesen.

Beim 1. Mal dachte ich: So waren die wilden Zwanziger für die Studierten: lasterhaft, unglücklich, ohne Geld. Beim 2. Mal: Was für eine schöne und doch hoffnungsvolle Geschichte. Warum aber muss Fabian am Schluss sterben? Das passt doch gar nicht. Nr.3: Wieso eigentlich „Geschichte eines Moralisten“? Fabian macht doch bei allem mit – kapier ich nicht. Das 4. Mal: Ganz schön überzogen und strange, bisschen viele Zufälle und Ereignisse auf der kurzen Erzählstrecke. Beim x-ten Mal: Wieviel Selbstironie und Lebensfreude mit einem sarkastischen Ende. Beim x-ten plus 1 Mal: Fabian nenn ich meinen Sohn … Und inzwischen: Genieße ich die ganze Fülle an Situationskomik und Bildkraft.
Aber ich frage mich noch immer, wie es Martina gelesen hat und warum sie es mir geschenkt hat …

Wie wollte es denn der Autor gelesen haben? – Darauf gibt Erich Kästner im Vorwort zu der Neuauflage nach dem Krieg (1950, also knapp 20 Jahre nach Erstveröffentlichung) eine klare Antwort: Der Roman „wollte warnen. Er wollte vor dem Abgrund warnen, dem sich Deutschland und damit Europa näherten. (…) Das vorliegende Buch, das großstädtische Zustände von damals schildert, ist kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt“ (9 f.).
Ach so ist das Buch zu verstehen … Deshalb war es auch im ursprünglichen Manuskript des Autors mit „Der Gang vor die Hunde“ betitelt und als „moralisches Buch“ (9) gedacht.
Hm …. Wird denn die Schilderung von unmoralischen Szenen durch den fiktiv erhobenen Zeigefinger zur moralischen Mahnung? – Sicher nicht. Und als „moralisches Buch“ habe ich Fabian wirklich nie gelesen. Nicht immer ist die Intention des Autors, zumal retrospektiv vorgetragen, auch der Schlüssel für den Lesenden. Allerdings: Wenn man bedenkt, dass Fabian nur zwei Jahre nach seiner Veröffentlichung als „entartet“ und „zersetzend“ vom Nationalsozialismus verunglimpft und verboten wurde, gerade weil es unter anderem Sexualität frei und frivol schilderte, ist diese Apologie des Autors menschlich und sachlich mehr als nachvollziehbar. Erich Kästner wollte kein Idealbild des Lebens beschreiben – das allerdings ist dem heutigen Lesenden selbstverständlich. Dass Dichtung verdichtet und nicht einfach nur naturalistisch nachzeichnet in gleicher Weise. Deshalb mag das, was Kästner als überzeichnet, gar als „Karikatur“ (10) betrachtet, aus dem Abstand heraus immer noch sehr nahe auf Tuchfühlung mit dem Zeitgeschehen sein und in komprimierter Weise die Seele des Berliner Großstädters offenbaren …

Berlin am Ende der Zwanziger

Folgt man den historischen Ereignissen aus den Zeitungsschlagzeilen, die Jakob Fabian im Café querliest, befinden wir uns irgendwo zwischen dem Juli 1928 und Oktober 1930 in Berlin  – schon das zeigt,
dass hier nicht ein individuelles Schicksal zu einem bestimmten Zeitpunkt geschildert wird, sondern exemplarisch eine Zeit beschreiben wird. Trotzdem  ist es eine ereignisreiche Erzählung …
Der promovierte Germanist ist unglücklich als Werbetexter  angestellt, sucht Vergnügen in einem Klub nach dem Prinzip „Die Liebe ist ein Zeitvertreib, Man nimmt dazu den Unterleib“ (58), landet im Bett einer verheirateten Frau, deren Mann Jurist und Voyeur ist, flieht, gerät in Auseinandersetzungen von Kommunisten und Nazis, verliebt sich aufrichtig in seine Zimmernachbarin, wird arbeitslos, beherbergt einen verarmten Erfinder, lehnt die Arbeit bei einer rechtsgerichteten Zeitung ab, leidet unter der Karriereprostitution seiner Geliebten beim Film, der Selbstmord seines Freundes wegen eines idiotischen Irrtums wirft ihn aus der Bahn, die letzte Zuflucht bei seiner Mutter wird zur Todesfalle … Und dazwischen passiert unendlich viel Interessantes. Das Ganze ist so dicht, dass keine Zusammenfassung dem turbulenten Geschehen gerecht werden kann.
Nachtleben, Vergnügungssucht, zarte Liebe, Schlagabtausch mit Nazis, Arbeitslosigkeit und Kriegsversehrte, Besuch der Mutter, ein armes Mädchen und ein reicher Jurist, Film und Jahrmarkt – es ist das ganze Spektrum des Lebens am Ende der Zwanziger, in das man eintaucht, nur eben aufgereiht und komprimiert am Erleben Jakob Fabians.

Stimmung ohne schmückende Details – die Neue Sachlichkeit

Ist es Winter oder Sommer, trägt Fabian Anzug oder geht er in Grau, ist der Freund Labude dick oder dünn – all das interessiert nicht und wird nicht geschildert. Trotzdem gibt es jede Menge sachliche Details, von dem, was wir sehen sollen, nicht die Äußerlichkeiten eines Helden, sondern das verrückte Treiben der Gesellschaft: z.B. der Jahrmarkt (166 ff.), auf dem ein Viertelpfund Kaffee, ein Pfund Butter oder ein Stück Gänsebraten in der Lotterie für ein Groschen oder 20 Pfennig Einsatz zu gewinnen sind, das Reinlichkeitsritual der Liebhaberin bei Taschenlampenlicht (171), die Positionen des Abendakts im Künstleratelier (87) und unendlich viel mehr.
Immer wieder schwelge ich neu, was es alles zu entdecken gibt. Der Vorrat ist unerschöpflich an schnell und treffend gezeichneten Eigenheiten dieser verrückten Zeit.
Alles ein bisschen übertrieben? Schon, aber dafür umso treffender.

Erich Kästner ist gut genug bekannt, als dass ich mehr über ihn hier erwähnen müsste.
Der Versuch einer Rekonstruktion der Urfassung des Manuskripts unter dem Titel „Der Gang vor die Hunde“, kann man verschieden beurteilen, ein paar Szenen mehr (als Hörbuch) bietet es in jedem Fall, der satirische Charakter war aber auch in der Erstveröffentlichung genug betont.

Zitate …

… gäbe es zuhauf. Hier nur eine kleine Auswahl:
„Wie gesagt, das Leben muss vor dem Tode erledigt werden.“ (83).
„‚Ich bin überall rasiert“, erläuterte die Magere und war nicht abgeneigt, den Nachweis zu erbringen.“ (55)
„Wir werden nicht daran zugrunde gehen, daß einige Zeitgenossen besonders niederträchtig sind, und nicht daran, daß andere besonders dämlich sind (…). Wir gehen an der seelischen Bequemlichkeit aller Beteiligten zugrunde. Wir wollen, dass es sich ändert, aber wir wollen nicht dass wir uns ändern.“ (37)
„Wo nehmt ihr die Dreistigkeit her, sechzig Millionen Menschen den Untergang zuzumuten, bloß weil ihr das Ehrgefühl von gekränkten Truthähnen hab und euch gern rumhaut?“ (225)
„Fabian ertrank. Er konnte leider nicht schwimmen.“ (236)
„Was soll das alles?“ dachte er, zahlte rasch und ging nach Hause.“ (198)
„Quatsch mit Sauce“ (128)

 

Erich Kästner: Fabian. Die Geschichte eines Moralisten, dtv 1995 (1931), 246 Seiten.
Erich Kästner: Der Gang vor die Hunde, Atrium Verlag 2014, Gesprochen von: Nico Holonics, ungekürztes Hörbuch 2020. 

Goldenes Berlin

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