Vampir-Romane (3): Die Liebe einer Toten

Lesedauer: 9 Minuten

Théophile Gautier: La morte amoureuse (Die liebende Untote) Buchbesprechung

Der Traum ein Leben …

1835 lässt der Österreicher Grillparzer seinen Helden am Wiener Burgtheater einen märchenhaften Albtraum durchleiden. Der Jäger Rustan will seine Verlobte verlassen, doch in der Nacht vor seinem Aufbruch träumt er ein ganzes Leben. Angetrieben von übersteigertem Geltungsdrang erreicht er Ruhm und fällt doch tief bis zum Selbstmord. Am nächsten Tag erwacht der Jäger und begreift, auf was es ankommt. Sofort ehelicht er seine Verlobte und wird häuslich.
Das ist Biedermeier im wahrsten Sinne des Wortes (nennt sich auch literaturgeschichtlich so!): eine nachhaltige Läuterung und Rettung vor Abenteuer und ausschweifender Liebe hin zu einem biederen, einem sittsam-ruhigen Leben.

Nur ein Jahr später (1836) lässt der Franzose Gautier den südfranzösischen Priester Romuald ein Doppelleben träumen, bei dem sich kaum unterscheiden lässt, ob der weltfremde Dorfpfarrer in der Provinz von schweren Alpträumen einer Liaison mit der vampirischen Kurtisane Clarimonde heimgesucht wird, oder ob den Lebemann in den heißen Nächten Venedigs seine Schuldkomplexe in Gestalt eines sich selbst kasteienden Priesters peinigen.

„Seit dieser Nacht hatte sich mein Leben verdoppelt, und die eine Hälfte von mir kannte die andere nicht mehr. Bald war ich ein Priester, der jede Nacht träumte, daß er ein Edelmann sei, bald eine Edelmann, der träumte, er sei ein Priester. Ich konnte Traum und Wachzustand nicht mehr unterscheiden und wußte nicht, wo Wirklichkeit und Illusion begann.“ (36)

Eben jenes Lebensgefühl, das Théophile Gautiers seinen zerrissenen Romuald aussprechen lässt, charakterisiert treffend die gesamte literarische Richtung der schwarzen Romantik, zu der man Werke von E.T.A. Hoffmann, Victor Hugo und Edgar Ellen Poe zählt und eben auch Die liebende Untote. Das Konzept des Franzosen Gautier (1811-1872) ist dabei so grundlegend anders als das seines österreichischen Zeitgenossen Grillparzer (1791-1872), dass man es nicht übersehen kann.

Warum fange ich diese Buchbesprechung so gelehrig an? Ganz einfach: Die liebende Tote ist in Bezug auf die Form kein Vampir-Roman, sondern höchstenfalls eine Novelle (knappe 50 Seiten!). Auch inhaltlich passt die Einordnung für das Stück als Vampir-Roman nur bedingt. In der Geschichte der Literatur gilt das Werk jedoch als bedeutsamer Vorläufer dieser Gattung.
Ich hege Zweifel, ob La morte amoureus“ tatsächlich von englischsprachigen Autoren wie Joseph Sheridan Le Fanu (Carmilla, 1872) oder Bram Stoker (Dracula, 1897) gelesen wurde, weil das kleine Werk von Gautier zu seiner Zeit wenig Verbreitung fand und insofern kaum direkten Einfluss ausgeübt haben dürfte. Aber umso schöner lässt sich daran die Entwicklung verdeutlichen, wie sich die phantastische Literatur im Geist der Zeit vorbereitet und einen Dracula zunächst möglich und später dann sogar (lese-)salonfähig gemacht hat.

Die Erzählung

Die Erzählung beginnt wie eine Beichte, die der Priester Romuald im Alter von sechsundsechzig Jahren ablegt, weil sich seine Seele noch immer voller Sehnsucht verzehrt nach einer bereits längst verstorbenen Frau, obwohl seine Liebe ganz Gott gehören sollte, dem er brav und zeitlebens treu als Landpfarrer gedient hat. Es waren die letzten Worte, die Clarimonde fast wie einen Fluch bei ihrem endgültigen Abschied sprach und die sich nun erfüllen: „Du wirst dich ewig nach mir sehnen“ (45).

Am Tage seiner heiligen Weihe zum Priester blickt Romuald auf dem Weg zum Altar in die grün strahlenden Augen einer Frau und wird sofort von ihrer Lebendigkeit entflammt. Seine ganze, kleine Welt wird in diesem Moment erschüttert und scheint ihn von seinem Weg mit lieblichen Einflüsterungen wie eine teuflische Versuchung abbringen zu wollen: „Wenn du mir gehören willst, werde ich dich glücklicher machen, als es Gott selbst im Paradies vermag.“ Religiös überhöht preist sie sich an (vgl. Joh. 6,35): „(…) ich bin die Schönheit (…), ich bin das Leben. Komm zu mir …“ (9). Doch die Zeremonie nimmt ihrem Lauf und die Unbekannte ist bitter enttäuscht.

Was anfangs wie die Schwärmerei eines unerfahrenen Seminaristen wirkt, der sich plötzlich seiner sexuellen Bedürfnisse bewusst wird und sich die Zuneigung einer wildfremden Schönheit nur in seiner Fantasie eingebildet hat, erweist sich durch unwahrscheinliche Zeichen als geradezu schicksalshafte Fügung. Als er zu seiner neuen Pfarrstelle aufbricht, sieht er sie auf dem Balkon eines weit entfernten Patrizierhauses im letzten Lichtstrahl ihre Silhouette, als wollte sie von der Reise abhalten. Kein Zweifel, dass die beiden „Seelen in Sympathie verbunden“ (18) sind.

Kaum hat sich Romuald in seiner neuen Stelle leidlich eingefunden und seine Gefühle beruhigt, da wird er auch schon von einem Boten in der Nacht zum priesterlichen Beistand für eine Sterbende gerufen. Der lange Ritt durch den Wald gleicht einer Schauergeschichte und endet in einem dunklen Schloss.

Dort angekommen ist es bereits zu spät. Er kann nur noch die Totenwache am Bett der Verstorbenen halten.

Doch es ist Clarimonde, die in luftigem Leichengewand nichts von ihrer Schönheit verloren hat. Mit all seiner Liebe küsst er sie und sein Kuss wird erwidert. „Ich habe so lange auf dich gewartet, dass ich gestorben bin. Jetzt sind wir vereint“, haucht sie, stirbt und lässt Romuald in völliger Verwirrung zurück.

Tage später kehrt sie im Traum zurück, berichtet von einer langen Reise, um in diese Welt und ihren Körper zurückzukehren, um den Tod aus Liebe zu überwinden. „Ich liebte dich, schon lange, bevor ich dich gesehen hatte. (…) Du warst mein Traum, dem ich in dem schicksalshaften Moment in der Kirche begegnete“ (32). Sie hat die „Pforten des Grabes aufgestoßen“, um mit ihm vereint zu sein. 

Von nun an setzt sich dieser Traum immer weiter fort. Romuald wird zum Lebemann, der in dem feudalen Venedig keine Vergnügungen auslässt, nur in Sachen Liebe bleibt er seiner Clarimonde treu und sie ihm. Das Glück wäre vollkommen, gäbe es nicht zwei Probleme.

Clarimonde wird immer blasser und kälter. Kein Arzt kann ihr helfen und Romuald fürchte um seine Liebe. Als bei einem kleinen Unfall zufällig sein Blut an ihre Lippen gerät, offenbart sich die morbide Wahrheit. Sie begehrt sein Blut, trinkt an der Wunde und erblüht wieder zu vollem Leben. Ab diesem Moment nimmt sie ihm heimlich im Schlaf sein Blut. Romuald weiß es, befürchtet kurz, dass sie das Leben aus ihm herausziehen wird, aber sie beruhigt ihn, und er ist bereit ihr alles zu geben.
In seinem anderen Leben erscheint der fromme Abbé Serapion und drängt Romuld, das Grab von Clarimonde zu öffnen, damit er erkennen möge, welchem teuflischen Wahn er erlegen ist. Mit dämonischem Eifer zerrt der Geistliche ihn um Mitternacht zum Friedhof und begeht das Sakrileg, den Sarg zu öffnen. 

Romuald, des Doppellebens überdrüssig, fügt sich dem älteren Geistlichen … und führt fernhin nur noch das Leben eines Priesters.

[ Illustrationen von Eug.  Decisy in der Ausgabe von 1904, dokumentiert in der Bibliothèque nationale de France: Source gallica.bnf.fr / Bibliothèque nationale de France]

Lesbarkeit heute?

Die liebende Untote endet mit der Warnung: „ein einziger Augenblick bringt Euch ewige Verderbnis“ (45), doch die Geschichte selbst entlarvt dies als Spott. Der Priester Romuald liebte seine Vampirin und sehnt sich, wie wir vom Anfang wissen, noch immer nach ihr, mehr als er Gott dienen will.
Obwohl die priesterliche, enthaltsame Sicht durchaus Raum einnimmt, ist für heutige Leser eher befremdlich, in welch überaus schwärmerischer, fast verherrlichender Art Gautier seinen Romuald die weibliche Schönheit in allen Details beschreiben lässt. Es ist eben eine Liebesgeschichte, sogar eine, in der zwei Menschen über den Tod hinaus schicksalhaft vereint sind. Natürlich ist das auch schwülstig, aber auf eine berührende Weise.
Beim ersten Lesen habe ich noch ein bisschen gefremdelt, beim zweiten Mal verzauberten mich die vielen netten Details wie etwa die immer wiederkehrenden Rosenblätter, die mit der Farbe der Lippen von Clarimonde verglichen werden und die Intensität oder Blässe des Rots symbolisch für Leben und Tod stehen.

Trotz der stark männlichen Perspektive kann man Théophile Gautier kaum Sexismus vorwerfen. Er gilt als Vorreiter einer Emanzipation der weiblichen Romanrollen, weil er in Mademoiselle de Maupin (1835) eine bisexuelle Frau beschreibt und sogar in der Vorrede erstmalig in der Literaturgeschichte vom dritten Geschlecht spricht – wenn das nicht brandaktuell ist …

Die verliebte Tote oder auch Die tote Liebende, wie man den französischen Titel übersetzen könnte („Untote“ wie in der deutschen Ausgabe interpretiert bereits), ist eindeutig heute noch lesbar und lesenswert, natürlich auch wegen der vampirischen Seiten, zu denen ich nun endlich komme.

Vampirmotive

Vorweg: Nein, es wird nicht übermäßig blutig.

Clarimonde stirbt, wird von dem Priester geküsst, den sie seit dem Moment liebt, als sie ihn gesehen hat, kehrt für diesen Romuald aus dem Reich der Toten aus reiner, der Liebe entspringenden Willenskraft zurück und führt mit ihm in der Nacht, vielleicht auch nur im Traum, drei Jahre lang eine berauschende Beziehung. Erst nach einiger Zeit offenbart sich, dass das Leben gänzlich aus ihr schwindet und beide entdecken zufällig, welches Mittel hilft: Blut, das Lebenselixier schlechthin. Gierig, „katzenhaft“, mit grünlich schimmernden länglichen Pupillen springt sie ihren Geliebten an, trinkt „wollüstig“ (39) aus der Wunde, und erblüht zu vollem Leben. So stark hier das dunkle, vampirische in Clarimonde hervortritt, kann sie sich doch beherrschen: „Ich werde von Deinem Leben nur so viel nehmen, wie nötig ist, damit meines nicht verlöscht.“ (40)

Der Abbé Serapion warnt den Unglücklichen vor der stadtbekannten Kurtisane: Alle „ihre Liebhaber sind auf die elendste und grausamste Weise ums Leben gekommen. Sie galt als Leichenfresserin, als weiblicher Vampir. Ich glaube, sie war der Teufel in Person.“ (28) Die Teufelin und verruchte Verführerin, die ihre Liebhaber der Seele beraubt, ist seit christlichen Zeiten ein beliebtes Motiv, doch diese Vampirin passt nicht ins Bild. Romuald setzt der typischen Dämonisierung entgegen: „Ich hatte keinerlei Furcht. Der Vampir war für mich nur das Gegenstück zur Frau“ (41) und diese liebt er „schwärmerisch“ (37). Genau in dieser Ambivalenz verharrt die Perspektive der Novelle bis zum Ende, an dem der alt gewordene Priester Romuald gesteht: Die „Liebe Gottes reichte nicht aus, die ihre zu ersetzen“ (45).

Alles wäre gut, wenn nicht der fanatische Abbé Serapion den Priester zum Handeln drängen würde, die Leiche der Clarimonde, die es tatsächlich gibt, ausgräbt und mit Weihwasser besprengt, woraufhin sie zu Staub zerfällt.

Es gibt also jede Menge Motive, insbesondere für die modernen Liebes-Vampirromane, die hier vorbereitet sind. Vampirzähne und Fledermaus jedoch fehlen. Und auch das abgrundtiefe Böse eines Vampirs sucht man vergeblich, denn die schwarze Romantik nimmt die schwarz-weiß-Malerei ihrer Zeitgenossen gerne aufs Korn, indem sie Realität und Fantasie als zwei Seiten einer seelischen Wirklichkeit verwischt.

Bedeutung in der Literatur

Franz Grillparzer

Und damit kehre ich zum Anfang des Beitrags zurück: die Zeitgenossen, der Österreicher Grillparzer und der Franzose Gautier. Vielleicht wurden beide noch nie miteinander verglichen, aber wenn man sich erst einmal darauf einlässt, ist der Unterschied eklatant.

Seit dem letzten Sieg über Napoleon 1815 herrscht überall in Europa wieder der Adel (Restauration). Selbst in Frankreich saßen bis 1830 die Bourbonen fest auf dem Thron. In Wien allen voran die Habsburger. Kunst und Literatur dürfen in dieser erzkonservativen Atmosphäre nicht mehr politisch sein und wandern in die Geistigkeit ab. Dieser Rückzug lässt sich allerdings sehr verschieden vollziehen. 

Die Biedermeier ziehen sich in die heile Welt zurück und erheben das moralisch Wertvolle jetzt noch weiter in den Himmel der Dichtkunst. Unterdessen entwickelt sich in Frankreich die Idee des  „l’art pour l’art“, dessen erster Streiter unser Théophile Gautier ist. Kunst darf sein, was sie ist, muss sich keinem moralischen Anspruch stellen. Das hat etwas Befreiendes. Zudem ist Gautier ein Bewunderer von E.T.A. Hoffman (E.T.A. Hoffmann Portal) und schreibt die Die liebende Untote unter dem Einfluss der Gedanken der  schwarzen Romantik, die das Seelenleben mit all seinen Tiefen und Dunkelheiten in die Wirklichkeit projiziert. Und auf diese Weise ist etwas Neues entstanden.

Während bei Grillparzer der Albtraum letztlich Théophile Gautiernur der Läuterung dient, ist das Traumleben mit der toten und vampirischen Clarimonde bei Gautier in gleicher Weise wirklich und schön, wie bedrängend und irreal. Urmenschliche Sehnsüchte und Ängste spiegeln sich in dem zerrissenen Priester und lassen die inneren Dämonen weit über die Schauerelemente ( Schauerroman) hinaus zu eigenen Gestalten mit Leben und Charakter werden. So, und nicht durch einen Biss, entstand die erste lebendig-untote Vampirin in der Literaturgeschichte.

Und noch ein abrundendes Schlusswort: „Sogar Proust, einer der größten Erforscher der menschlichen Seele, sagte, Gautier öffne uns ‚die Tür zu Räumen, in die wir sonst nicht hätten eindringen können.’“ ( Peter Urban-Halle: Plädoyer für die reine Schönheit, Deutschlandfunk 2011).

Quellenangaben

– Théophile Gautier, Die liebende Untote. Aus dem französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ulrich Klappstein, jmb Verlag 2020 (2010)
 Französische Ausgabe von 1904 der Bibliothèque nationale de France (digital)

Andere Rezensionen:

Dandelion, Frank Duwald, (2015)

 

(…) sie war zweifellos das schönste Geschöpf, das ich je gesehen hatte, und die peinvolle Erinnerung an das Gesicht aus meinem Kindheitstraum, die beim ersten unerwarteten Erkennen in mir aufgestiegen war, verschwand.

Joseph Sheridan , Camilla der weibliche Vampir, Diogenes 1979 (1929), S. 33

Ich spürte die sanfte, zitternde Berührung ihrer Lippen auf der hochempfindlichen Halspartie und zugleich das Pieksen zweiter scharfer Zähne, die nur die Haut berührten und dort ruhten. Ich schloss die Augen in wohlig erregter Hingabe und wartete – wartete mit klopfendem Herz. 

Bram Stoker, Dracula, dtv 2014, S. 45

 

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