Deutsch-deutsche Spionage

Lesedauer: 8 Minuten

Titus Müller: Die fremde Spionin ()

Agententhriller aus der Zeit des Kalten Kriegs gab es in allen Schattierungen. Autoren wie Ian Fleming (James Bond), Heinz Konsalik (Agenten lieben gefährlich, u.v.a.) und John le Carré machten den Spion zum massentauglichen Buch-Helden, viele anderen folgten und jeder von uns kennt die eine oder andere Verfilmung.
007 und seine Kollegen waren sicher durch überzogenen westlichen Pathos von der harten und dunklen Realität der Spionage weit entfernt. Denn das fundamentale Misstrauen zwischen den zwei großen Blöcken nach dem 2. Weltkrieg bestimmte die politische Weltlage und machte gegenseitige Bespitzelung zu einem toternsten Geschäft. Erst Perestroika, Glasnost und der Mauerfall beendeten diese Ära – obwohl der aktuelle Krieg mehr als Zweifel aufkommen lässt, ob die alten Gegensätze wirklich überwunden sind.
Im deutsch- deutschen Verhältnis jedenfalls ist die Wiedervereinigung historisch unerwartet und tatsächlich passiert. Mag diese „Einheit“ nicht in allen Punkten unangefochten sein, ist sie doch ein echter Segen im Vergleich zu der bitteren Systemkonkurrenz von DDR und BRD, die das Verhältnis der beiden deutschen Staaten über 40 Jahre hinweg negativ prägte.

Von dieser Zeit, als sich Ost und West nach dem Zweiten Krieg immer weiter voneinander entfernten und der Mauerbau 1961 die getrennte Entwicklung besiegelte, handelt der Roman „Die fremde Spionin„. Die Unterschiedlichkeit der zwei deutschen Staaten wie auch die gegenseitige Bespitzelung ist allgegenwärtig. Und diese deutsch-deutsche Thematik ist für die literarische Umsetzung als Spionage-Roman eher ungewöhnlich und deshalb interessant.

Titus Müller geht sein Sujet mit historischer Gewissenhaftigkeit an, lässt reale Personen, bekannte Politiker (Erich Honecker, Alexander Schalck-Golodkowski, John F. Kennedy) und echte Agenten (Reinhard Gehlen) auf der Bühne seiner Erzählung erscheinen, stellt geschichtliche Orte (z.B. die Villa von Walter Ulbricht) und Umstände (Vorbereitungen des Mauerbaus) genau recherchiert vor und streut Kolorit (Werbesprüche, beschriebene Gegenstände, Fotoentwicklungsprozess) so üppig ein, dass man sich in einer umfassenden Dokumentation wähnt. Ach, und natürlich geht es auch um das Leben von Rita, die Grund genug hat, sich an den Mächtigen der DDR zu rächen, weshalb sie sich von der anderen Seite anwerben lässt.
Alles brillant recherchiert, geschichtlich toll aufbereitet, wie gesagt – geradezu dokumentarisch, aber erzählerisch blass wie ein vergilbtes 60ger Jahre Foto. Das Buch mag hohe Punkte bei bekannten Handelsplattformen erzielt haben, ist bei den Spiegel Bestsellern gelistet und verdient allein für das Aufgreifen der literarisch wenig beleuchteten DDR-Zeit der 60ger gelesen zu werden. Trotzdem bleiben die Figuren des Romans nur charakterlose Statisten in einem politischen Spiel, was fast postmodern anmuten und genial sein könnte, wenn es denn gewollt und konsequent umgesetzt wäre. Stattdessen wirkt es rational verkopft und liest sich wie eine Erzählung ohne nachvollziehbare menschliche Emotion oder spürbare dramaturgische Spannung. Sorry – das musste erst mal raus. Jetzt genauer:

Wie und warum Rita zur Doppelagentin wurde …

… ist natürlich von Interesse und ein Grundmotiv des Buchs, wobei man mich auch im Dunkel darüber hätte lassen können. Ihr Vater war ein hoher politischer Funktionäre in den Anfangsjahren der DDR, der in Ungnade fiel und die Familie durch das Regime auseinandergerissen und zerstört wurde. Rita wächst bei systemtreuen Eltern auf, ihre Schwester ist verschollen. Anfang zwanzig gelingt ihr eine Karriere als bessere Stenotypistin im Ministerium für Außenhandel der DDR, das von keinem geringeren als Schalck-Golodkowski geleitet wird. Damit wird sie interessant für den Bundesnachrichtendienst. Beim Erstkontakt mit dem BND wittert Rita die Chance, sich deren Quellen für die Suche nach ihrer Schwester zunutze zu machen. Sie heuert an, liefert Informationen und ahnt nicht, dass ein Spitzel in Pullach (Hauptquartier des BND) sitzt und der KGB sie bereits kurz darauf entlarvt. Nun wird sie zur Doppelagentin und verrät der Gegenseite etwas über die Methoden des BND. Ihr Gewissen scheint damit nicht weiter belastet zu sein, immerhin stellt der KGB den Kontakt zu ihrer Schwester her – das einzige Motiv, das für Rita zu zählen scheint.
Alles sehr konstruiert, vielleicht ja historisch möglich, aber in jedem Fall nicht gerade psychologisch raffiniert vermittelt. Die fremde Spionin blieb mir als Person tatsächlich sehr fremd. Schade.

Spannender war für mich, die verschiedenen Akteure im Spionage-Geschäft kennenzulernen. Auf westlicher Seite hatte sich gerade erst der BND aus der nazistisch geprägten „Organisation Gehlen“ gegründet (1957), während im Osten der russische KGB als Drahtzieher hinter allem steht. Die lange Grenze zur BRD ist mit Stacheldraht und Todeszonen bereits hart gezogen, nur innerhalb von Berlin pendeln täglich hunderttausende von Ost nach West und umgekehrt. Die Mieten sind billig im Osten, das Arbeits- und Warenangebot viel größer im Westen. Kurz vor dem Mauerbau 1961 ist das wirtschaftliche Missverhältnis bereits so groß, dass die Zahl der Emigranten in die BRD einer Einwanderungswelle gleicht. Die DDR musste reagieren, wollte sie nicht vollständig ausbluten. Doch der russische Präsident Chruschtschow fürchtete den Krieg mit den westlichen Alliierten, wenn der den freien Status der Enklave Berlin änderte und blieb unentschieden … In diesem Vakuum war es für beide Seiten von elementarem Interesse, was der jeweilige Gegner vorhatte. Geschichte, die wirklich faszinierend ist.
Diese politische Gemengelage wiederum ist facettenreich dargestellt, wenn auch eher durch viele nüchtern eingestreute Informationen als mit stimmungsvollen Szenen. Trotzdem, bei mir ist ein Bild entstanden, wie groß das Ungleichgewicht war innerhalb von Berlin, das aufgespalten und von zwei unterschiedlichen Besatzungsmächten geschützt wurde.

Agentthriller

Unthrilled Histo-Doku

Bei berühmten Thriller-Autoren wie Stephen King und Dan Brown hat mich auch immer schon der handwerklich fragwürdige Trick gestört, mit der auktoriale Sense durch die Szenen zu fahren wie ein schicksalhaftes Omen. Man ist als Leser noch mitten in der Erzählperspektive der Figur, dann kommt: Aber er wusste noch nicht, dass dies seine Ende bedeutete … oder … Alles war geplant, nur nicht, dass eine Bombe unter der Toilette bereits zu ticken begonnen hatte … Bei Titus Müllers Roman sind es nicht diese kleinen Schicksalshiebe, sondern der auktoriale Alleswisser bricht sich ständig Bahn und füttert einen mit sachlichen Infos, die man als „dump“, Belehrung oder spannendes Wissen empfinden kann.
Ein Beispiel will ich geben, wie pathetisch und ungelenk der Erzählstrang um den BNDler und Ritas Kontaktmann Stefan Hähner gewoben wird:
Auch wenn er nicht in Berlin geboren war, fühlte er sich hier heimisch. Diese Stadt stellte alles her, vom Brautschleier bis zur Turbine. Sie zog ihren Wohlstand aus der Industrie, aus der Umwandlung von Rohmaterial in Fertigware und davon lebten ihre Millionen ...“ Zwei Absätze weiterer wirtschaftspolitischer Aufzählungen folgen, um dann allgemein philosophisch zu enden: „Städte waren Waschtröge der Zivilisation, hierher strömten die Menschen auf der Suche nach Sodom und Gomorrha, und die Arbeit und die Pflichten des Alltags wuschen sie sauber von ihren Gelüsten und machten Leute aus ihnen, die bloß noch ihr Leben schaffen wollten.
Er ging um das Mittelstück herum …“
(131 f.).
Die scheinbare emotionale Beschreibung (fühlte sich heimisch) wird sofort instrumentalisiert für eine sozial-historische Analyse, um zum Ende philosophisch platt zu werden und dann unvermittelt und bezugslos wieder den Erzählfaden aufzugreifen – sorry: So ist das völlig unthrilled.

Interessant und scharfsinnig zusammengestellt ist fast alles, was Titus Müller zu berichten weiß, aber als fließend oder gar spannend habe ich diesen stark auktorialen Stil nicht empfunden. Ich war fasziniert von der Dokumentation der Zeit, die sich in der sachlichen Erzählweise zeigt, das schon, aber ich war kein bisschen innerlich angefixt und auch nicht „mitleidend“, weil mir die Figuren emotional nicht nahe gekommen sind. Die einzige Sex-Szene (S. 282) gar ist so bieder runtererzählt, dass sich bei mir nur ein Gefühl der Peinlichkeit regte – erotisch ist das nicht, berührend schon gar nicht.

Historizität versus Plausibilität

Ich wiederhole mich vielleicht, wenn ich jetzt noch einmal auf die Psychologie von Rita eingehe. Aber es ist so augenfällig, wie der Historizitäts-Anspruch des Autors eine gute Story verhindert, dass ich nicht anders kann, als dies zu brandmarken.

Natürlich könnte das Kindheitsdrama von Rita ein Motiv dafür sein, dass sie sich vom BND anwerben lässt. Die Verhaftung ihres Vaters ist ihr eindrücklich in Erinnerung geblieben. Und sie will die „DDR“ dafür „büßen” lassen (123). Wirkt sie verbittert? – Keine Ahnung, das kommt nicht raus. Es erscheint immerhin edel, dass sie dem DDR-Staatsapparat schaden will, weil dieser ungerecht zu ihrer Familie war. Nicht Geld ist das Motiv. Schön. Eine verspätete Rache. Tausende andere Spione, die sich ebenfalls von der BRD anwerben ließen, werden andere und deutlich „unedlere“ Motive gehabt haben, denn bei nur extrem wenigen dürfte der Vater ein hoher Parteifunktionär gewesen sein, der dann vom eigenen Regime beschuldigt und gefoltert wurde.

Titus Müller präsentiert seinen Lesern im Nachwort („Der historische Kern“, 381 ff.) eine historisch recherchiert mögliche Variante: der Fall „Georg Dertinger“, ein DDR-Außenminister, dessen Familie nach haltlosen Beschuldigungen zerstört wurde. So ist auch Ritas Fall gestrickt. Doch nur weil es eine historische Wahrscheinlichkeit gibt, dass es solch einen Fall hätte geben können, schafft dieser Umstand in einem Roman erzählerisch noch keinen roten oder psychologischen Faden. Historizität ist nicht gleichbedeutend mit psychologischer Plausibilität. Und die hat mir leider komplett gefehlt. Der Charakter von Rita wirkt simpel gestrickt, obwohl gerade die Motive, warum man sich zur Spionin machen lässt, sehr komplex, finster und interessant sein könnten …

Und auch die Monologe und Szenen (Einblendungen) aus der inneren Erzählsicht von Erich Honecker, John F. Kennedy und anderen haben in mir Irritation ausgelöst. Man kann das als Autor machen, historische Persönlichkeiten fiktiv zu Wort kommen zu lassen – ich bin sicher, Titus Müller hat die Umstände und Details absolut gründlich recherchiert – aber sie waren mir viel zu kurz, als dass sie glaubwürdig rübergekommen wären. So hatte es etwas unangenehm Reißerisches.

 

Berliner Mauer

Fazit

Hörensagen ist halt nur Hörensagen. Ich hatte nur Positives über Titus Müllers Roman(e) gehört. Umso größer war die Irritation. Als in Szenen arrangierte Histo-Doku geht „Die fremde Spionin“ sicher gut durch und in Punkto akribische Details wird man kaum bessere Arbeiten finden.

Ein Bild der Zeitgeschichte entsteht, das ist eine klare Stärke des Buchs. Es hat mich zum Nachrecherchieren angeregt und mir spannende Stunden über die deutsch-deutsche Vergangenheit bereitet – aber eben neben, und nicht mit der Lektüre. Denn eine wirkliche „Geschichte“, die mich fasziniert hätte, ist in meinem Kopf nicht entstanden.

„Geschichte in Geschichten zu erzählen, ist Titus Müllers großes Talent“ sagt BAYERN2 (auf der Rückseite des Buchs). Mir fehlt total die Geschichte bei all dem Geschichtlichen. 

Von Titus Müller mit seinen tiefen Kenntnissen der Zeit hätte ich ganz sicher viel lieber ein Sachbuch gelesen als einen Roman.  

Titus Müller: Die fremde Spionin, Heyne 2020, 398 Seiten.

 

Hintergrundinfos

Die Homepage des Autors.
Video-Interview mit Titus Müller (und eine kleine Lesung)

Durchweg positive, aber recht kurze Rezensionen bei:
Buchlieblinge
Frau Goethe liest
Streifis Bücherkiste

Illustrative Zitate

 

Sie nickte. Ihr Mund hatte einen entschlossenen Zug angenommen. „Ich hab immer gekuscht, hab gesagt, was die hören wollten, ich hab mich verstellt mein Leben lang, weil ich gehofft habe, dass das meinem Vater hilft, dass er irgendwann wiederkommt, wenn ich ein braves Mädchen bin. Als Vater nicht kam, habe ich gehofft, dass sie mir wenigstens die Schwester wiedergeben. Aber die wollen den Kampf. Dann sollen sie ihn haben.” (77)

 „Sie werden büßen. Sie werden bereuen, was sie unserer Familie angetan haben.” (123)

Während sich entlang der tausendvierhundert Kilometer innerdeutscher Grenze nichts rührte ohne die Genehmigung der Machthaber, überquerten in Berlin jeden Tag eine Viertelmillion Menschen die Grenze zwischen Ost und West. Man versuchte, den Missbrauch einzudämmen, bewachte die Grenze an den Außenseiten Westberlins scharf und erschoss dort jeden, der hinüberzukommen versuchte. (125)

„Das heißt, der KGB will Sie als Doppelagentin gegen uns einsetzen. Sie müssen unverzüglich zurück nach Ostberlin.“ (243)

Wieso hörte die Welt ausgerechnet ihm zu? Er war nur ein Mann mit Rückenschmerzen. Verheiratet, zwei Kinder, Caroline war drei, der kleine Johnny noch nicht einmal ein Jahr alt. Er war bloß Jack.
Wann war aus ihm John F. Kennedy geworden, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika? (270)

Titus Müller: Die fremde Spionin, Heyne 2021

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert