War es nun meine Faszination für den vor über hundert Jahren verstorbenen Russen oder die Sympathie für die frühere DDR-Schriftstellerin, die mich zu diesem Kauf verführt hat? Im Zweifelsfall beides. Bereut habe ich es nicht, eine Auslese aus der Auslese und damit ein erwähltes Mitbringsel von einer Leipziger Buchmesse. Exklusiv oder – auf die innere Haltung bezogen – geradezu asketisch, während andere mit gefüllten Taschen und Rucksäcken von dannen gezogen sind. Mit 80 Seiten Text für 20 EUR war das noch nicht einmal ein Schnäppchen.
Hatte die große Buchshow nicht mehr zu bieten?
Von Ordnern scharf eingewiesen wurden wir wie Mastvieh durch die Gänge der Messe geschoben, Blöken half wenig, ausscheren ging gar nicht, selbst die Futterstellen waren überfüllt und nicht ein ruhiges Weideplätzchen zum Verweilen in Sicht. Kein guter Ort, um ein mit Herz und Verstand beschriebenes Papier mit Andacht zu würdigen. Wer liest schon gerne in einem Stall der Haltungsform 1 nach gesetzlichen Mindeststandards.
Tatsächlich fehlte mir die Muse bei all der Masse an Buchfans in den 5 Hallen. Ich führte viele nette wie tiefsinnige Gespräche mit anderen, die sich in derselben misslichen Lage befanden wie ich und sich allzu gerne austauschten. Eine Begegnung mit Büchern hatte ich auf dieser Art von Veranstaltung nicht. Wäre da nicht ein kleines Bändchen, das sich mir aufgedrängt hat.
„Leipzig liest“ ist die Magie der Buchmesse (nicht das Messegelände!). An allen Orten – Kneipen, Hörsäle und historische Kulturorte – überall wird gelesen und zugehört.
Ausgesucht hatte ich mir die Abendveranstaltung nach pragmatischen Gesichtspunkten: nicht weit von meiner Schlafstätte entfernt. Da wir in Deutschland meines Wissens nur zwei „Nationalbibliotheken“ betreiben, klang dieser Ort nach einem würdigen für ein Buchereignis. Von Volker Weidermann moderiert – zu meiner Schande muss ich gestehen, dass mir der Namen zuerst nichts sagte. Peinlich. Denn er steht in der Nachfolge des großen bösen Reich-Ranicki, allerdings eine sehr gezähmte Version des alten Literaturkritikers, charmant und ausgeglichen (der Günter Jauch der intellektuellen Buchbubble), inzwischen Feuilleton-Chef der Zeit. Kiepenheuer&Witsch organisiert ihre Reihe „Bücher meines Lebens“, in der Autoren über ihr Buch der Bücher schreiben.
Schöne Idee. Clemens Meyer über Christa Wolf (der kleinen Schwester von Virginia Woolf), der so heimatlich sächsisch in einen imaginierten Bart nuschelt, dass er sich mir irgendwie nicht zu verstehen geben wollte, und eben Helga Schubert, eine ältere Dame, die wie eine geläuterte Diva auftrat, über Anton Tschechow.
Die hundert Jahre alte „Deutsche Bücherei“ (als Vorläuferin der Nationalbibliothek) mit ihrem Lesesaal gab die geschichtsträchtige Kulisse. Ohne Anmeldung ließen sich die dienstbeflissenen Bibliothekarinnen zuerst nicht erweichen, die letzten Plätze des wohl gehüteten Buchhorts freizugeben, aber schließlich kamen ein paar geladene Gäste nicht und ein Pult – oben in der Mitte – wurde mein Buchbegegnungs-Ort.
Kann man als staatlich geförderte Schriftstellerin der DDR ohne Schuld sein? – Vermutlich gibt es darauf keine gute und schon gar keine einfache Antwort. Womöglich ist die Frage schon eine Anmaßung.
Die heute 83-jährige Helga Schubert jedenfalls war als therapeutische Psychologin und als Autorin in der DDR erfolgreich, setzte sich 1989 für den Runden Tisch der Friedensdemonstranten ein und erhielt 2020 den Ingeborg Bachmann Preis für ihr Buch „Aufstehen“ (in Anspielung an den Anfang von Bachmanns Roman „Das dreißigste Jahr“).
Eine irgendwie beeindruckende Frau. Ruhig spricht sie darüber, wie Tschechow sie gelehrt habe, beim Schreiben kühl zu bleiben, ja sogar „kalt“, und der Verlockung sentimentaler Überzeichnung oder eindeutiger Botschaften zu widerstehen. Wenn am Ende die Ambivalenz siegt, dann ist aus ihrer Sicht eine Erzählung am ehesten gelungen. Wie ein wohlwollender Bruder habe sie der Russe beim Schreiben begleitet und mit seinem Vorbild hilfreichen Rat gegeben.
In meiner Studentenzeit habe ich Szenen aus Tschechows Theaterwerken geprobt, später viele seiner Stücke gesehen oder gelesen. Im Gegensatz zu seinen schwermütigen, fast depressiven Zeitgenossen Dostojewski und Tolstoi lässt Tschechow das bunte Leben tanzen und entblößt auf subtile Weise das Groteske und Dunkle hinter der Maske. Das ist tiefsinnige Literatur, die leicht und in flotter Erzählmanier zu brillieren vermag. Auch für mich ein Vorbild, Anregung sich beim Schreiben zu hinterfragen, hart im Fluss der Erzählung zu bleiben und das Ganze hinter allem nicht zu vergessen. Eigentlich ist Tschechows Werk ein Paradebeispiel für eine narrative Tradition, die nicht in innere Monologe und Sprachkunst-Kapriolen abdriftet und trotzdem eine Welt eröffnet, die nachdenkenswert ist.
Das war mein Exkurs. Nun, wie Tschechow Helga Schubert begleitet hat.
Anderen immer zuhören, Praktik der Psychotherapie, von der eigenen Person absehen und dem anderen ganz zugewandt sein – das ist eine professionelle Distanz, die einen erkalten lässt. Sprachlos macht. Das
Pferd in Tschechows Erzählung „Gram“ ist das Symbol dafür. Niemand anders wollte vom Leid des Kutschers (seine „Gram“), dessen Sohn gestorben ist, etwas wissen, nur sein Pferd hört sich geduldig an, was in die Welt herausgeschrien werden müsste.
Das „Pferd für andere Menschen“ (41) wurde Helga Schubert als Psychologin, „um Menschen zu begreifen“. Eine Voraussetzung, um auch von ihnen zu erzählen. Auch Tschechow war als Arzt (und später als Autor) ständig von Menschen umgeben, die ihn mit ihren Nöten und Geschichten belagerten. Mehrfach berichtet er davon, wie der ständige „Besuch“ ihn von der Arbeit abhält. Aber womöglich macht genau das ihn auch erst fähig, seine großen Geschichten daraus zu formen? Und seine „Genauigkeit“ (55), z.B. wie er in „Die Insel Sachalin“ über die Missstände auf der Gefangeneninsel Gutes und Verwerfliches sehr klar zu schildern vermag.
Helga Schubert erhält die Gelegenheit in den 70-ern an die Orte zu reisen, an denen Tschechow lebte und über ihn zu schreiben. Und sie erfährt am eigenen Leib, wie wenig in der Sowjetunion Werte zählen, die ihr Vorbild geschätzt hatte. Selbst die Enkelin Chruschtschows, der sie begegnet, lebte in beständiger Angst vor der Willkür des Geheimdienstes. Ein Schlüsselerlebnis für die Distanz zum DDR-Regime?
Die Bezüge zu Tschechow aus dem Leben der Autorin sind recht assoziativ geknüpft, fast widersprüchlich. Den guten Kutscher und seine Gram hat mir Helga Schubert sehr nahe gebracht, mich angestoßen, selbst bei dem russischen Meister wieder nachzulesen … Aber ein neues Bild, über das hinaus, was ich von ihm bereits wusste, ist kaum entstanden. Wie auch auf den knappen Textseiten. Von der Autorin … auch nur sehr schemenhaft, was sie antreibt. Ich bleibe sehr ambivalent zurück … Ist das intentionales Kalkül oder einfach nur zu kurz gegriffen?
Die Ambivalenz hat einen unschlagbaren Vorteil. Ich frage mich, ob da nicht noch mehr ist, was mir nur bis jetzt noch verborgen blieb, weil ich es noch nicht richtig erfasst habe. Das schafft Nachdenken und Neugier. Und Lust, mehr von Schubert und Tschechow zu lesen.
Jedenfalls wollte ich nach dem Auftreten der Grande Dame in der Nationalbibliothek wenigstens eines ihrer Werke lesen … Das habe ich hiermit getan.
Helga Schubert: Über Anton Tschechow, Kiepenheuer&Witsch 2023, 98 Seiten.
Hintergrundinfos:
➛Anton Pawlowitsch Tschechow
➛Wiki-Seite zu Helga Schubert
➛Die Nationalbibliothek in Leipzig