„Die Wellen wurden größer. Das Wasser begann, im Mondschein zu leuchten, ein blasses, wunderschönes Blau. Die schwarze Gestalt auf seiner Oberfläche war das Mädchen, das mir das Leben gerettet hatte.“ (218)
Das Mädchen heißt Lettie Hempstock, ist 11 Jahre alt, und das schon seit ewig langer Zeit. Das Wasser ist ein Ententeich auf dem Anwesen hinter dem Haus, gerade so groß wie ein Teich und dennoch ein Ozean, vielleicht noch weiter als das das Universum selbst. Gerettet wird „der Junge von oben an der Straße (33), der sich in diese Geschichte vor langer Zeit verirrte und nun als Erwachsener am Teich sitzt und sich erinnert.
Warum eigentlich schlug alles solche Wellen?
Die (End-)Sechzigerjahre in Südengland. Es begann mit dem Opalschürfer aus Australien. Die Eltern des Siebenjährigen (der Erzähler!) vermieten dem Mann aus wirtschaftlicher Not dessen Zimmer, aber der unglückliche Mensch „schreckt Dinge auf, die besser ruhen sollten“ (44). Bei der Ankunft überfährt sein Taxi die kleine Katze. Irgendwann bringt er sich im Auto der Familie um. Spielsucht und Geldsorgen. „Er hat das alles losgetreten“, erklärt Lettie. „Aber das, was da gerade explodiert, das ist nicht er. Das ist jemand anderes. Etwas anderes.“ (45). „Und das ist nicht gut.“ (44)
Die Familie Hempstock, 3 Frauen aus drei Generationen, kennen sich mit dem Anderen aus. Ihren Hof in Sussex besitzen sie schon seit William dem Eroberer (fast tausend Jahre), haben nur ein klein wenig modernisiert und kochen fantastisch. Eine Wohlfühlatmosphäre für den erzählenden Jungen, und eine Enklave einer anderen, uralten Welt – Gramma, die Großmutter, erinnert sich sogar noch daran, wie der Mond erschaffen wurde. Als er fast im Schlaf an einem Geldstück erstickt, verspricht ihm seine neue Freundin Lettie: „Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas passiert.“ Aber das wird viel schwerer als gedacht.
Lettie nimmt ihn mit, um das andere Uralte zu suchen und wieder zurückzuschicken. „Halte meine Hand“ ist die einzige Anweisung (56), bevor sie den Weg in den Wald antreten. Aber die Kreatur ist listig, will leben, trennt die beiden, die Hände geraten auseinander, es sticht den Jungen in Fuß, bevor es verschwindet. Als er nach Hause kommt, ist Ursula Monkton da, ein bildhübsches Kindermädchen, doch sie ist nur eine „Pappmaske für das Ding“ (84). Übermächtig hält sie ihn davon ab, in den Schutz der hempstockschen Gefielde zu fliehen. Es wird schlimm. Sein Vater küsst dieses Wesen, bestraft ihn, ertränkt ihn fast in der Badewanne, er flieht … Aber überall ist sie.
Wieder Lettie. Sie kommt und hält ihn an der Hand, muss eine noch ältere Macht herbeirufen, um diese Kreatur zu vertreiben, nein aufzulösen. Die gefräßigen Hungervögel folgen ihrer Bestimmung, aber auch sie fordern mehr: Das Leben des Jungen. In einem Eimer, der das Wasser aus dem Teich enthält, kann er in den Ozean tauchen und auf das Anwesen fliehen. In dieser Zeit weiß er alles. „Ich sah all diese Dinge und erfasste sie, und sie erfüllten mich, genauso wie das Wasser des Ozeans mich erfüllte“ (193). Doch damit sind die Hungervögel noch nicht aus der Welt geschafft und es wird sehr traurig …
Alles war dem Erzähler eingefallen, doch als er sich auf den Weg macht, den Teich verlässt, vergisst er die Magie des Kindseins wieder, vergisst die Schuld, die sein Leben wert sein sollte.
Soweit die Geschichte.
Daniel Kehlmann preist das Buch als „poetisches Juwel“, direkt auf dem Cover in der Ausgabe von 2016. Für mich ist das keine positive Referenz, allemal Marketing. Neil Gaiman als einer der amerikanischen Großen bedarf sicher keiner Empfehlung aus den Reihen der hochgelobten deutschen Literaten. Und trotzdem bin ich darüber gestolpert, weil das Buch in mir etwas ganz anderes ausgelöst hat als das Erstarren vor der dichterischen Schönheit, von der es durchaus etwas besitzt …
Auf den ersten Blick sieht es nach erzählerischer Perfektion aus. Kaum ein Bild, das nicht wieder auftaucht, variiert wird, wie das Motiv in einer Sinfonie, in alle Stimmen durchgespielt.
Der Ententeich ist Eimer, Ozean, weite Welt, Durchgang in ein anderes Universum, Urkraft, Grab und die Erinnerung an alles. Verlorenes Spielzeug ist wie Erinnerungen, bannt Geister auf ihren richtigen Weg. Die drei Hempstock-Frauen verkörpern Jugend/Erwachsenendasein/Alter und zugleich Abenteuerlust/Zweifel/Fülle. Die drei sind Magie der selbstverständlichen Art, pure Natürlichkeit in bäuerlicher Einfachheit, Appetit auf köstliche Speisen und ebenso das seit Ewigkeiten Dagewesene, „Mythen“, die immer schon „waren“ (74). In einem ähnlichen Spektrum begegnen uns Katzen, Vögel und Naturgewalten.
Man kann es atmosphärisch nennen und dem Wort-Bilder-Reigen wie Musik lauschen und es genießen. Aber mein Herz kam nicht in Wallung. Es sollte, denn die Bilder sind schön. Und dennoch berühren sie mich nicht, haben in mir sehr wenig zum Schwingen und Klingen gebracht. Fast als wäre die Fülle sinnentleert.
Mir ist es viel zu dicht. Übergroße Themen versammeln sich wie zu einem pompösen, barocken Fest: Kindheit und Erwachsenendasein, Vater-Sohn-Konflikte, Freundschaft bis zur Aufopferung, elterliche Gewalt und sexuelle Übergriffe, die Gier in der Gesellschaft in den Hungervögeln, die Magie des Einfachen ohne hexische Allüren, die Ursprache als Sehnsucht nach Verständigung, das platonische Zuerst der Bilder und Ideale, Vergänglichkeit und Ewigkeit, … und noch vieles mehr. Nichts davon löst sich irgendwie auf – das muss es auch nicht, wenn es die Schwingung, den Nachklang weiterwirken lässt. Aber das hat es bei mir nicht erreicht, obwohl das Volumen des Resonanzkörpers groß wäre … Zu viel weite Welt in einem kleinen Teich, zu viel Philosophie in der Seele eines Siebenjährigen, zu viel Allegorie für Sinniges, so dass es fast sinnlos wird … Zu viele verschiedene Töne, als dass sie gemeinsam schwingen könnten.
Ich habe das freie Spiel vermisst, das einfach nur zeigt, was ist und nicht mehr bedeutet, außer man möchte mehr hineinlesen.
Neil Gaiman zieht ein Fantasy-Register, das wie eine alte Orgel in einer kleinen Dorfkapelle dröhnt. Ein tolles Instrument, aber irgendwie am falschen Platz. Stürme, Regen, Leuchten, Alraunen, Katzen, Würmer, Mantawölfe, aasfressende Dino-Saug-Horrorgeier-Hungervögel, der Portal-Teich … Überbordende Fantasie, die mir so oft bei der Fantasy fehlt. Deshalb traue ich mich kaum zu sagen, dass es mir in diesem Fall „zuviel“ ist, obwohl dieser Überreichtum immer noch weit besser zu ertragen ist.
Man merkt dem Stück an, dass es lange geschliffen wurde wie ein Juwel, dass an den Details immer wieder gefeilt und gearbeitet wurde, so dass sich Bezüge ergeben, die im Bild bestehen, im Motiv, ohne jedoch noch einer bestimmten Intention in dem großen Ganzen der Geschichte zu folgen, künstlerisch erstellt mit dem Handwerkzeug eines mächtigen Literaten, aber ohne die Passion eines von einer klaren Idee Getriebenen …
Ach, jetzt werde ich selbst zu pompös und dabei stehe ich ja gerade nicht auf literarischen Pomp und Putz, sondern auf die feine Erzählung mit Nebentönen, aber ohne allegorische Unendlichkeitstiefe …
Fast möchte ich sagen, dass „Der Ozean am Ende der Straße“ etwas von einem „literarischen“, oder „poetischen“ Comic besitzt (bebildert ist die Ausgabe von 2o16 tatsächlich mit wunderbaren Zeichnungen von Jürgen Speh, die aus den Sechzigerjahren stammen könnten): Scharf konturiert gezeichnet, wunderschön anzuschauen, man verweilt lange bei den Sprechblasen, jedes Bild ist ein pointierter Gedanke, das Heft ein Sammelsurium von großen Ereignissen. Man amüsiert sich, versteckt sich damit im Bett vor den Erwachsenen, liest bis tief in die Nacht , legt es weg und vergisst …
Btw. Neil Gaiman selbst ist in Südengland geboren und aufgewachsen. Ich konnte wenig über die frühen Jahre des Autors herausfinden, aber womöglich wäre es ein Ansatz, dort nach den unglücklichen Kindheitstagen zu suchen. Vielleicht möchte manches nicht genau erinnert werden und so ist eine Geschichte entstanden, die mehr mit der Realität zu tun hat, als der magische Pomp zu erkennen gibt. Der Erzähler hat den großen Traum, eine besondere „Kunst“ (230 u. 11) zu erschaffen, die den Sinn seines Lebens irgendwie rechtfertigt. Wenn das nicht autobiographische Züge sind, fress ich den Hexenbesen ;-).
Natürlich lohnt sich „Der Ozean am Ende der Straße“ als Lektüre. Ganz sicher. Schon allein deshalb, um darüber nachzugrübeln, warum ein so schönes Buch von einem wirklich interessanten Autor so wenig innere Resonanz erzeugt. Vielleicht war meine eigene Kindheit auch nur nicht unglücklich genug und anderen mag es anders ergehen.
Übrigens gibt es seit April diesen Jahres eine neue Hardcover-Ausgabe im Eichborn Verlag, die reich illustriert ist. Auch schön anzusehen (und das ist keine Werbung!!).
Neil Gaiman, The Ocean at the End of the Lane, HarperCollins 2013.
Neil Gaiman, Der Ozean am Ende der Straße, Bastei Lübbe 2016.
Andere Rezensionen:
➛Bookster HRO (Stefan) ging es genau umgekehrt wie mir, insofern interessant zu lesen (06.2021)
➛Bellas Wonderworld, Belladona/ Stefanie Hochadel (05.2021)
➛Buchensemble, Marlen Grand (2019)
➛Leselebenszeichen, Ulrike Sokul (2015)
➛AstroLibrium, Arndt Stroscher/ Mr. Rail (2014)
Weil es so tiefsinnige Einzelsequenzen in dem Buch gibt, breche ich mit meiner Tradition, dass ein Buch das andere interpretiert, und stelle noch ein paar Bonmots desselben in den Kasten.
„Der Ozean am Ende der Straße“ möge sich selbst interpretieren 😉
„In jenen Träumen verstand ich diese Sprache, die erste aller Sprachen, und ich herrschte über das Wesen der Wirklichkeit. “ (63)
„Ich erzähle dir jetzt etwas Wichtiges: Erwachsene sehen im Inneren auch nicht wie Erwachsene aus. Äußerlich sind sie groß und gedankenlos, und sie wissen immer, was sie tun. Im Inneren sehen sie allerdings aus wie früher. Wie zu der Zeit, als sie in deinem Alter waren. In Wirklichkeit gibt es gar keine Erwachsenen. Nicht einen auf der ganzen weiten Welt.“ (152)
„Du hast ein Loch in deinem Herzen. Ein Portal in ein Land jenseits der dir vertrauten Welt. (…) Du wirst sie nie vergessen können, und du wirst immer nach etwas suchen, das du nicht haben kannst, etwas, das du dir nicht einmal richtig vorstellen kannst.“ (187)
„Der Ozean befand sich wieder in dem Teich, und als wäre ich an einem Sommertag aus einem Traum erwacht, blieb mir nur das Wissen, dass ich vor nicht allzu langer Zeit alles gewusst hatte.“ (197)
Neil Gaiman, Der Ozean am Ende der Straße, Bastei Lübbe 2016
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