Verloren in der Bücherwelt

Lesedauer: 7 Minuten

Mary E. Garner: Das Buch der gelöschten Wörter. Der erste Federstrich ()

Über vierzig Jahre nach der unendlichen Geschichte gibt es wieder ein Portal, durch das man sich in die Fantasiewelt von Büchern lesen kann. Mrs. Gateway’s Fine Books ist nicht nur eine alte Buchhandlung in London, sondern der Durchgang zu allen Buchwelten. Anders als in dem Klassiker von Michael Ende bedroht bei Mary E. Garner nicht die Phantasielosigkeit der Menschen die andere Seite, sondern genau umgekehrt: Die Phantasiegestalten aus den Büchern können sich von ihren festgeschriebenen Rollen lösen und würden allzu gern den Schritt in unsere Welt wagen. Kaum auszudenken, was passieren würde, sollte ihnen dies gelingen. Eine großartige Idee, die höchste Erwartungen weckt …

Die Erwartungen

Schon allein die ungezwungene Begegnung mit den großen Gestalten der Literatur verspräche ein spannendes Abenteuer zu werden.
Wie wäre es, … Homers Odysseus in ein philosophisches Gespräch über das Schicksal zu verstricken, durch Dantes Vorhöfe der Hölle zu schreiten, mit Grimmelshausens Simplex für Frieden zu kämpfen, an Käpt’n Ahabs finsteren Gedanken teilzunehmen, den großen Fisch mit Hemingways altem Mann zu fangen oder gar ganz intellektuell mit Marcel Proust auf die Suche nach der verlorenen Zeit zu gehen. Genial, oder? Und wer es fantastisch mag, könnte mit Jules Verne zum Mittelpunkt der Erde reisen, Lovecrafts Cthulhus an der Seite von Howards Barbarenheld Conan besiegen, durch den Wandschrank in Lewis Narnia schlüpfen, um an der Seite von Aragorn für Tolkiens Mittelerde zu streiten … Die Möglichkeiten, in literarische Universen einzutauchen wären unendlich – Streifzüge wie in Tad Williams Otherland nur eben in die virtuellen Welten von Büchern.
Und mal angenommen, die großen Bösewichte aus den Geschichten vieler Jahrhunderte schlichen sich heimlich in unsere Welt. Welche Dramen und Weltuntergangsszenarien würden Fagin, Moriarty, Hyde, Sauron, Voldemort und Co. heraufbeschwören … Mich kribbelt es geradezu in den Fingern, die wildesten Vermischungen von Helden und Antagonisten zu veranstalten und verrückte Auseinandersetzungen in Szene zu setzen.

Die Einlösung

Stattdessen paddeln wir bei Mary E. Garner über den Ententeich in Jane Austins Stolz und Vorurteile, ohne die wunderbaren Hauptfiguren der Erzählung überhaupt kennen zu lernen, treffen auf ein betrunkenes Bambi (F. Salten), das sich an vergorenen Waldfrüchten übergütlich getan hat, unterhalten uns banal mit einem sprechenden, altklugen Lassie (E. Knight) und wohnen den Kappeleien  einer lesbischen Gwen mit einem dümmlichen Lance bei, die dereinst als Lady Guinevere und Sir Lancelot in der Artussage den Urtypus  großer Liebe darstellten. Irgendwie taucht noch Anna Karenina (L. Tolstoi) als labiler Charakter auf und ein Hofhund aus Dracula (B. Stoker) wird gerettet. Das Figurenensemble würde aus meiner Sicht gerade noch so durchgehen, nicht aber, wie wenig wir von deren Geschichten erfahren.
Wie kann man in Austins Romane eintauchen, ohne die tiefsinnige gesellschaftskritische Stimmung und die klugen Dialoge einzufangen. Wie in Stokers Dracula und nichts von den Schauerelementen der Gothic Novel Tradition aufgreifen?
Die Buchwelten erlebbar zu machen oder gar in die heutige Welt hinüber zu nehmen, scheint nicht das Anliegen zu sein. Man muss die erwähnten Werke nicht gelesen haben, besser wenn nicht, sonst ist die Enttäuschung noch größer.

Hinter dem Pseudonym Mary E. Garner verbirgt sich die bekannte deutsche Schriftstellerin Mirjam Müntefering, die sich mit dieser Trilogie zum ersten Mal auf die weite Bühne der Fantasy gewagt hat und dort ein eher rührseliges Volksstück mit komödiantischen Elementen aufführt. Schauer, Grusel oder gar Horror, Spannung bis zum Thrill, magische Momente, dunkle Prophezeiungen, unvorstellbare Welten und Begegnungen – all das sucht man in diesem Buch vergeblich.

Natürlich ist es eine Frage dessen, was man erwartet … Und meine Erwartungen für diese wunderbare Grundidee eines Fantasy-Settings sind komplett andere, weshalb die Umsetzung mehr als ernüchtert. Man darf Erwartungen gerne mal durchbrechen oder auf den Kopf stellen, unschön ist es nur, wenn man damit spielt, ohne etwas anderes Substantielles im Rahmen dieses Genres anzubieten.

Was es nicht ist …

Ein Beispiel für die verpasste Chance auf ein echtes Highlight will ich kurz anführen. Versehentlich springt die Hauptfigur Hope in Bram Stokers Dracula. Gruseliger könnte es kaum werden. Welche Szenen drängen sich jetzt eurer Phantasie auf? Eine wilde Fahrt in den finsteren Karpaten mit einem unmenschlichen Kutscher und Wölfen mit gebleckten Zähnen … umstreift von drei wunderschönen Vampirgeistern, die sich die Lippen nach frischem Blut lecken … unter Deck eines Geisterschiffs in den Kanälen Londons, auf dem nicht ein Matrose überlebt hat … in der Zelle mit dem verrückten Insassen einer Irrenanstalt, der in seinem Wahn das Kommen des Meisters ankündigt …
Und wo landen wir? Auf der Straße vor dem Stall, beim Hofhund. Gut, dann kommt noch die Kutsche des Grafen angerauscht und ein Freund muss sie von der Straße ziehen. Vor Wolfsgeheul flüchten sie sich ins Innere des Gebäudes, finden dann den Durchgang zurück und nehmen den verlausten und bemitleidenswerten Hund mit …
Hä? Sorry, kein bisschen Gothic Chill zu spüren, nur eine tierliebende Autorin.

„Die Öffnung des Portals für Buchfiguren muss um jeden Preis verhindert werden. Ansonsten wäre die Welt, die ich seit zweiundvierzig Jahren kannte und die selbst im Angesicht von Müllbergen, Klimakrise und Supermodel-TV nich nur übel war, dem Untergang geweiht.“ (244)

Was es ist …

Nachdem ich meiner Enttäuschung deutlich Ausdruck verliehen habe, will ich gerne auch andere Dinge hervorheben. Das Buch der gelöschten Wörter ist ganz sicher solides Handwerk, ein souverän und routiniert geschriebenes Buch. Ich kann verstehen, dass es anderen gefällt. Es bietet nette Unterhaltung in einem leichten Stil. Wer dies sucht, wird zufrieden sein.

Und um der Vollständigkeit willen muss ich die Story an dieser Stelle nachtragen:
Hope, 42 Jahre alt, lebt einsam in London, arbeitet bei einer Partnervermittlung und ist selbst Single. Von einem ihrer Online-Klienten wird sie angesprochen, lässt sich auf einen Flirt ein und trifft sich mit ihm in einer mysteriösen Buchhandlung. Natürlich ist er ganz anders als in seinem Profil und überredet sie, sich in Jane Austins Stolz und Vorurteil hineinlesen zu lassen.
Hope ist überrascht, dass es funktioniert, mehr noch, als sie erfährt, dass sie ein besonderes Talent besitzen soll, mit böser Intention geschriebene Dinge zum Guten zu wenden. In der Zentrale (Plotpoint), die zwischen allen Buchwelten liegt und von M (für Madame Holle, sprich Frau Holle) wie das MI6 geführt wird, ist das Buch der gelöschten Wörter aufbewahrt, dass überzuquillen droht und von Wandlern ständig gereinigt werden muss, damit die furchtbaren Dinge nicht Wirklichkeit werden. Hope zeigt sich als die begabteste Wandlerin und wird gefeiert.
Gemeinsam mit anderen literarischen Figuren und zwei sehr unterschiedlich anziehenden Männern der Echtwelt entdeckt sie detektivisch, was die Absorbierer – wie sich die Gegenspieler nennen – mit ihrer Flut an bösen Worten zu erreichen suchen. Sie wollen über das Portal in die Echtwelt … Doch dies muss unter allen Umständen verhindert werden.

Das Fantasy-Konstrukt

Nach der Erfindung des Buchdrucks hat das Internet schließlich alles verändert. Plötzlich verschwindet Geschriebenes im Äther und taucht dann in böser Absicht in der Realität auf – so ein Grundkonstrukt der Story, dem man als fantastischem Ansatz folgen kann. Trotz anfänglicher Zweifel, ob eine solche Konstruktion trägt, wurde diese Architektur von der Autorin konsequent im Weltenbau umgesetzt und erreichte durch viele Details eine plausible Glaubwürdigkeit.
Leider ist diese Glaubwürdigkeit durch einige unschöne Stilblühten erkauft. Denn die Leserführung ist in dieser Hinsicht alles andere als subtil. „längst kapiert“ und „nicht schon wieder“ waren irgendwann Kommentare, die mein böser, lektoraler Bleistift häufiger an den Rand pinselte. In Fantasy-Szenarien neigt man als Autor*in dazu, alles zu erklären, verständlich zu machen, den Leser in alle Geheimnisse mitzunehmen … und schießt gerne mal über das Ziel hinaus. Sympathisch, aber vielleicht fast ein Anfängerfehler im neuen Genre, der nervt, jedenfalls mich.

Fazit

Es war ja kaum zu verbergen: Mir hat Das Buch der gelöschten Wörter nicht gefallen, obwohl es bewusst witzig  und locker angelegt ist und mit einer tollen Grundidee startet. Warum?
Mir fehlt die Atmosphäre, das Eintauchen in andere Welten, was mir mit diesem Buch schlicht nicht gelungen ist, obwohl es genau darum ja eigentlich ginge. Die Figuren aus der Literatur, denen man begegnet, tragen durch ihren eigentlichen Charakter kaum zur Handlung bei, wirken manchmal wie Statisten mit Redepart. Die Buchwelten in ihrem ursprünglichen Setting haben keine Bedeutung für den Verlauf und führen leider gerade nicht ins Zentrum der Geschichte, zu dem erhofften Plotpoint.

Trotz des fantastischen Grundsettings vermisse ich vieles (wie oben erwähnt), was einen guten Fantasy-Roman ausmachen könnte. Zudem empfand ich die Erzählweise der Protagonistin als zu naiv, der Stil insgesamt hat etwas Verniedlichendes, fast wie Hundetätscheln. Als dann auch noch Romeo und Julia von Shakespeare angeblich als glückliche Liebesgeschichte geschrieben worden sein soll, war ich sauer. Dem klassischsten aller Dramen der Weltliteratur – voll tragischer gesellschaftlicher Verstrickungen – einfach ein Happy End zu verpassen, fand ich unwürdig. Aber natürlich kann einem auch gerade dieser lockere Umgang mit den literarischen Erzeugnissen der Vergangenheit gefallen.
Ich lege das Buch hiermit auf den Stapel für solala-Belletristik, wie man sie allerorten findet und die meine Lust auf phantastische Literatur sicher nicht befeuert. Wer es gerne schlicht und gut hat und den Kopf mit netter Unterhaltung frei kriegen möchte, kann durchaus auf seine Kosten kommen.

Band 2 (Zwischen den Seiten) und 3 (Die letzten Zeilen) habe ich kurz quergelesen, aber im Hinblick auf meine Erwartungen wird es nicht anders.

Achtung. Wer sich drauf einlässt, muss wissen, dass der erste Band mit einem Cliffhanger endet und man unbefriedigt dennoch auf die Folgebände mit ihren jeweils über 400 Seiten schielt.

 

Mary E. Garner:  Das Buch der gelöschten Wörter. Der erste Federstrich, Lübbe 2020.

 

Hintergrundinfos:

Auf ihrer Webseite erzählt Mary E. Garner alias Mirjam Müntefering, wie sie zu ihrer Auswahl der Buchwelten kam und warum sie unter Pseudonym schreibt.

 

Andere Rezensionen:

Mona Tintenhain hatte auch keinen Spaß an dem Buch, allerdings z.T. aus anderen Gründen (11.2020)

Verena ist auf ihrem Lieblingsleseplatz ganz begeistert davon (06.2020)

Lisa auf ihrem Buchwinterblog (07.2020) und RoXXie bei the Art of Reading waren eher gespalten

 

Es gibt wenige Menschen, die ich wirklich liebe, und noch weniger von denen ich gut denke.
Je mehr ich von der Welt sehe, desto unzufriedener bin ich mir ihr; und jeder neue Tag bekräftigt meinen Glauben an die Mangelhaftigkeit aller menschlicher Charaktere und an das geringe Maß von Vertrauen, das man solchen Erscheinungen wie Verdienst oder Gefühl entgegenbringen darf.

Jane Austen, Stolz und Vorurteile, Manesse Verlag 1995 (1976), 183

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