Apokalyptisches Berlin der Zwanziger

Lesedauer: 7 Minuten

Paul Gurk: Berlin. Ein Buch vom Sterben der Seele

Mitte der zwanziger Jahre in Berlin.
Der Buchtrödler Eckenpenn – was für ein Name – verkauft in der Stadt auf seinem kleinen Karren allerlei Bücher: ein paar Klassiker, Stadtführer und ein blaues Heftchen mit Gedichten, die er selbst verfasste, und das auf wundersame Weise des Öfteren verschwindet, immer wieder auftaucht und schicksalhaft mit dem Verfasser verbunden bliebt, bis zum Ende.
Mit einem Hauch von Tragik und einer Prise Selbstironie nennt sich sein wenig einträgliches Geschäft „Literaturabfallhandlung“ (191), „Literatursenkgrube“ (197) – denn alles endet auf seinem Wagen, ein „Mausoleum des Zeitgeschmacks“. (131)

Das Berlin des fahrenden Händlers verschwimmt in Bildern wie im Traum – der betagte Mann beobachtet scharf den städtischen Alltag – einen Autounfall, dramatische Szenen der politische Agitation von Rechts und von Links (inklusive Pflastersteine und Maschinengewehrsalven), den erste Verkehrsturm am Potsdamer Platz, Boxsport und Sechstagerennen … –  und driftet dann „versunken in seine Betrachtungen“ (93) immer wieder melancholisch sinnierend ab.

Ein paar seltsame Begleiter kreuzen seinen Weg. Professor Hettwer und der Clown Fox Randolfini sind trotz der Unterschiede fast Freunde und liefern mit ihren manchmal grotesken Dialogen bei den Treffen in der Kaffeestube viel Lokalkolorit, wogegen Doktor Seidenschwanz nur aufgrund seiner Verstrickungen in die zwielichtige Halbwelt um einen mysteriösen Dorian Grey erfolgreich wird und den armen Eckenpenn zum unwissenden Mittäter macht und ihn letztlich ins Verderben reißt.

Unmittelbare Impressionen

Ganz ehrlich. Wer Berlin in den Zwanzigern als Stimmungsbild erleben will, wird nichts Malerischeres finden als Paul Gurks „Berlin. Ein Buch vom Sterben der Seele“ – geschrieben zwischen 1923 und 1925, veröffentlicht erst viel zu spät (weil nach den großen Berlin-Studien) im Jahr 1934. Das ist keine etwas anstrengende Sozialstudie wie Döblins Berlin – Alexanderplatz (1931), sondern ein schillernder Eindruck in aller Lebendigkeit. Trotzdem ist es nicht immer leicht dem Trödler zu folgen, wenn er in seine Tagträume hinüber gleitet und die sprachlichen Pinselstriche mehr einem groben wie farbig impressionistischen Stil folgen. Aber ich habe nie etwas Unmittelbareres über den traurigen Zauber der goldenen Stadt in dieser Zeit gelesen.

Wer dagegen eine fortlaufende Handlung oder die Aneinanderreihung von Action erwartet, mag sich auf Anhieb enttäuscht fühlen. Gleichwohl passiert in dem einen Jahr, aufgeteilt in 12 Kapitel von Februar bis Januar, gar nicht so wenig:
Eckenpenn wird bei einer der Unruhen (vermutlich nach der Hyperinflation 1923) angeschossen. Sein Freund, der Professor, erliegt einem Verkehrsunfall, weshalb dessen Sohn Eckenpenn mehrfach aufsucht. Die Tochter seiner „Schlafwirtin“ (245) wird ein Sternchen, ein Star beim Film – die deutsche Version der amerikanischen Hoffnung „vom Tellerwäscher zum Millionär“.
Der Trödler muss irgendwann seine wenig einträgliche Arbeit aufgeben und wird Hilfskraft in mehreren Anstellungen (Logenschließer am Theater, Ordner beim Sechstagerenne, in der Boxarena, Kegelbahn …). Schließlich wird er sogar Zeuge eines Giftmordes, der durch sein blaues Büchlein verübt wird. Er reist aufs Land, um dem Mörderischen der Stadt zu entgehen, nur um auch dort über das Radio der allgegenwärtigen Berliner Stimme immer und überall zu begegnen, weshalb er wieder zurückkehrt.
Und dazwischen, besonders in den letzten Monaten des Winters, als Eckenpenn bereits schwach wird und kränkelt, visioniert er vor sich hin, immer nach dem Motto „Träume sind höheres, wahres Wissen“ (261). Doch diese Träume sind kein Delirium, sondern handfeste und beißende Zeitkritik, die ich kurz beleuchten will.

Seelenkitsch und Demokratieverdruss

Fast beiläufig begegnet man als Leser dem spöttisch beobachteten Geist der Zeit. Besonders die Schriftstellerei hatte der Autor Paul Gurk im Visier. So findet man nette Seitenhiebe gegen populäre Vertreter dieser Zunft, die den Moden in der Literatur gleich der schnell wechselnden Damenmode hinterherhecheln und dabei viel „Seelenkitsch“ (69) produzieren.
Auch das Schwinden einer Lesekultur aufgrund der Technisierung und Massenentwicklung (fast wie in neueren Tagen) wird beklagt. „Selbst für die billigste und unterste Form jener Geistesbewegung, die man Literatur nennt, schien Geld und Interesse nicht mehr vorhanden zu sein. Es gab kaum noch Originale in der Welt, da die Sehnsucht ausstarb. Wer vom Jetzt lebt, weshalb sollte er Phantasie aufwenden“ (231)?

Das Leben des Trödlers wird schonungslos hart gezeichnet, die soziale Not ist groß. Die junge und von der Wirtschaftskrise geplagte deutsche Demokratie erschien hilflos, weshalb der leidgeprüfte Eckenpenn sich resignativ über die „Zwecklosigkeit jeder Wahl“ (31) äußert und den Parlamentszirkus sarkastisch kommentiert: „Sämtliche vertretenen Parteien retten allein das Vaterland und traten für den Schutz der ehrlichen und wahren Arbeiter ein“ (39). Zweifelsohne eine schwierige Zeit, gerade für die Demokratie.

Technik bis hin zu SciFi-Vision

Der industrielle Fortschritt, wie er sich in Berlin überdeutlich manifestiert, wird zugleich als Verfall und Degeneration der Seele gebrandmarkt.
Für den fliegenden Händler mit Handwagen wirkt das in der Stadt um sich greifende Automobil wie ein Wesen aus der Hölle. Entsprechend scharf wird dagegen polemisiert: „Der Explosionsmotor ist die Sekundenuhr der Erde. (…) Lärm ist Zusammensein“ (261) Und er geht noch weiter: „Der Moloch Verkehr fraß sich durch die Mauern“. „Jede Straße war ein Ort des Anstoßes und des Ärgernisses geworden, von Gasen und Abdämpfen vergiftet (…). Es schien, als ob der Gasstellungskampf des Krieges die gewöhnliche Umgangsform friedvoller Stadtgenossen geworden wäre“ (250). Alle Neuerungen fressen das Alte auf und machen Platz für „Fabriken und Gewerbehallen, für Messeburgen und Flugzeughäfen, für Zweckgeburten aus Glas und Eisen!“ (251). Wer zu schwach ist für die Unruhe – „Gas, Unterernährung, der Sprung von der Brücke stehen jedem frei“ (251).
Das Sinnieren des erfolglosen Buchhändlers hat manchmal fast philosophische Qualität und offenbart Kuriosität und Leid der vermeintlichen Moderne wie etwa dem technisierten Taylorismus, dieser unseligen Arbeitsteilung.
„Wer freut sich von diesen Menschen auf den Beruf? Wer sah in ihm den Ausdruck seines Wesens?“ (93). “Da kam das rohe Stück an das Band und rückte vor von Mensch zu Mensch, von Handgriff zu Handgriff, (…) die kürzeste Zeit für eine und immer dieselbe Handbewegung, denselben Muskeldruck, die immer gleiche Gedankenform. Von dem höchstbezahlten Maschinenteil Mensch wurde genauste und rascheste Arbeit verlangt“ (94). „Die nüchternes Grauen gewordene Weltbeherrscherin Technik und Logik“ (95). Wer denkt da nicht sofort an Charlie Chaplins Modern Times (1933), an den schraubendrehenden Arbeiter? Paul Gurk nennt es selbst ein „Sinnbild der Amerikanisierung“ (133), „das Zement, Eisen und Glas gewordene Taylorsystem, einer der neuen babylonischen Türme“ (134).
Eckenpenn als Sprachrohr des Schriftstellers wird sogar zum Zukunftsvisionär: „… es ist gar nicht abzusehen, wo wir in fünfzig Jahren sein werden! Daß man Kampfflugzeuge und die Tanks unbemannt durch abgestimmte elektrische Energie steuern kann, ist so sicher und einfach wie die Konstruktion einer alten Streugranate auf Zeit.“ (268). Dieser Part wurde bereits erschreckende Wirklichkeit wie auch weitere beschriebene Kriegstechniken, die einer Neutronenbombe und dem Gleichgewicht des Schreckens verblüffend ähneln. Und auch das „fernsehen“ (207) hat Paul Gurk bereits vorausgesehen. Einen „elektrischen Sperrgürtel“ dagegen gibt es nur in Star Wars.
Bei diesem Hang zu futuristischen Ansätzen verwundert es nicht, dass der Autor 1935 einen Science Fiction veröffentlichte, Tuzub 37, den ich mir schon angeschafft (aber leider noch nicht gelesen) habe.

Endzeitstimmung Berlin

Wie Erich Kästners Roman Fabian (1931) im Original den dystopischen Untertitel „Der Gang vor die Hunde“ trug, so auch Gurks Berlin „vom Sterben der Seele“. Das ist kein bourgeoises Lamentieren über die Schönheit des Landlebens gegenüber der Stadt. Nein. Das ist existentiell. Berlin selbst ist Sinnbild der Apokalypse, einer bitteren Zeit des Übergangs von einer Katastrophe in die nächste, vielleicht letzte. 

Mit prophetischer Gabe orakelt der Trödler: „Diese jungen Menschen leben heute alle so, als ob sie einen Krieg hinter sich und den Weltuntergang vor sich hätten“ (67) – ja, das war die Stimmung im Berlin dieser Tage und Paul Gurk hätte nicht mehr recht haben können. Es ist ein Abgesang auf die Großstadt als Symbol der Zeit, das Eintauchen in die dunkle Seele, die Phantasien eines alten Mannes wie ein „Schrei des apokalyptischen Tieres“ (253). Er kann Berlin nicht entfliehen. Selbst bei einem Ausflug aufs Land, den er unternimmt, „um die Ruhe zu entdecken, um die Stimme des ewigen Gottes Pan zu vernehmen“ (160), wird über „Welle 505“ allerorten Musik aus der Großstadt gespielt. „Das ist Berlin“ (163) – es ist inzwischen überall. Und es bringt mit seiner Sinnlosigkeit die Seele zum Sterben.

Der Autor Paul Gurk gehörte nicht zum Bildungsbürgertum, war Autodidakt und voller Talente, Romancier und Maler, aber nur eine Randgestalt in der Literaturgeschichte. Als er 1953 stirbt, hatte er fast 100 Werke verfasst, doch nur sehr wenige fanden überhaupt Beachtung. Gurk ist mit seinem Berlin nicht direkt als Vertreter der neuen Sachlichkeit einzordnen, weil er mitunter blumig und in inneren Bildern schreibt, obwohl er sehrwohl das Zeitkolorit mit höchster Tiefenschärfe in seiner visionären Verzerrung erfasst. Aber er passte nicht perfekt in den Zeitgeist und wurde womöglich deshalb vergessen, bevor er sich überhaupt ins Gedächnis seiner Generation einschrieben konnte.
Vielleicht ging es dem erfolglosen Autor am Ende seines Lebens ähnlich wie seinem fahrenden Buchhändler:
„Draußen leuchtete die rasende elektrische Lichtreklame für eine neue Zigarettenmarke ‚Berlin‘ auf. (…) Die Augen des toten alten Mannes starrten auf das Wort. Er streckte ihm die Zunge heraus, dem verfluchten, geliebten Berlin.“ (358).

Kein anderes Buch ließ mich bisher tiefer in die Seele Berlins der vermeintlich goldenen Jahre blicken. Hell und dunkel, schön und grotesk. Der alte Eckenpenn, einfacher Geschäftsmann und totziger Philosoph, blieb dennoch bis zum Ende ein Staunender: „Ich bin von Geheimnissen des Lebens umgeben. Der Tod ist ein Ergebnis, ein unbedeutsames Geschehen“ (262).

 

Paul Gurk: Berlin. Ein Buch vom Sterben der Seele, Arco Verlag 2017 (1934), 446 Seiten.

Diese Ausgabe enthält (S. 361-426) eine sehr lesenswerte Würdigung des Werks von Paul Gurk und seines Lebens von Magnus Chrapkowski, nebst Anmerkungen wie auch Hinweisen zur kritischen Buch-Ausgabe – alles sehr gelungen!

 

 

Goldenes Berlin

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