AVATAR – in einem anderen Körper

Lesedauer: 5 Minuten

Zwischendurchgelesen: Théophile Gautier, AVATAR (1851)

Wenn der Stein erst mal geworfen ist, zieht er seine unaufhaltsamen Kreise. Kaum hatte ich die in Deutschland wenig bekannte „La morte amoureuse“ mit der Vampirin Clarimonde von Théophile Gautier vorgestellt, fiel mir direkt das spätere Werk „AVATAR“ (1851) des besagten Franzosen in die Hände. Und wer James Camerons Meisterwerk des SciFi schon so oft gesehen hat wie ich, kommt dann um ein Buch mit diesem Titel nicht herum.

Der erste fantastische Avatar

Wusstet ihr, dass ein „Avatar“ in der Überlieferung der indischen Veden die Erscheinungsform des Gottes Vishnu in Menschengestalt ist? Er wird übrigens meist mit blauem Gesicht dargestellt. Denkt ihr da auch sofort an die Na’vi mit ihren athletisch blauen Körpern und wie der querschnittsgelähmte Ex-Marine Jake Sully in seinem Avatar das Herz der mutigen Neytiri erobert, die Riesenflugechse Toruk unterwirft und den Planeten gegen die Ausbeutung durch die Menschen verteidigt? Naturvolk im Einklang mit der Natur gegen technisierte und von Gewinnmaximierung getriebene menschliche Zivilisation …

Diese Bilder müsst ihr erst mal wieder aus eurem Kopf verscheuchen … Gschsch … Wir gehen nicht in die Zukunft, sondern zurück in die Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem Mann Ende zwanzig. Eine seltsame Krankheit hat sich seiner bemächtigt und beraubt ihm immer mehr seiner Lebensenergie. Mit dem Blick aus der Moderne scheint Octave, wie der ansehnliche Junggeselle heißt, unter einer mittelschweren Depression zu leiden. Überzogene Erwartungen, Perfektionismus, unerfüllte Sehnsüchte, Hoffnungslosigkeit – all das trieb ihn in eine immer dunkler werdende lethargische Verzweiflung. Warum? Posttraumatische Erlebnisse? Nö. Wir befinden uns im Zeitalter der Romantik, also ist es – ihr ratet richtig – der klassische Liebeskummer, allerdings derjenige der allerschlimmsten Art. Die angebetete Gräfin Prascivia Labinska ist ebenso wunderschön wie absolut glücklich verheiratet. Pech gehabt. Ihre Zurückweisung ist unmissverständlich: „ich kann Sie nicht lieben.“ Der wenig pragmatisch veranlagte Octave verliert daraufhin jegliche Lebenslust.

Nun aber wird es schwarz-romantisch. Der skurrile Pariser Arzt Balthazar Cherbonneau nimmt den Dahinschwindenden ins Gespräch wie ein passionierter Psychoanalytiker. Das ausgemergelte Männchen ist ein weitgereister Mystiker und Asket, der im einsamsten Kloster Indiens die tiefsten Geheimnisse des menschlichen Daseins ergründet hat. Und der seelische Schmerz von Octave rührt ihn. „Sie haben mir die Liebe vor Augen geführt, und wir Träumer, wir, die wir etwas vom Alchimisten, von Zaubern und von Philosophen zugleich an uns haben, wir streben alle mehr oder weniger nach dem Absoluten.“ (75 f). Weil auch er diese Schwelle noch nie überschritten hat, schlägt er etwas Unmögliches als Heilmittel vor: einen Seelentausch.

Die Praxis von Balthazar Cherbonneau wirkt wie eine Mischung aus Ashram, Alchemistenlabor und viktorianischer Experimentierstube. Unter einem Vorwand hat der Arzt den Gemahl der Gräfin eingeladen und vollzieht mit viel Brimborium seine Magie. „Das Avatar war vollzogen.“ (72)

Avatar

Überglücklich kehrt Octave im Körper des Grafen Olaf zu seiner Angebeteten nach Hause – doch Ach und Weh … Das reine Gemüt der Prascivia Labinska wittert beim Blick seiner Augen Böses und sperrt den Gemahl mit weiblicher Intuition aus ihren Gemächern aus. Auch in den nächsten Tagen gelingt es dem unglückseligen Octave nicht, die Liebe der Gräfin in dem Körper des anderen auf sich zu ziehen.

Indessen dreht der echte Graf als Octave fast durch, findet schließlich die Gründe seiner Verwandlung heraus und fordert seinen Widerpart zum Duell. Natürlich bringen beide Kombattanten es nicht über sich, ihr Alter Ego im Kampf zu töten. Bar jeder Hoffnung bekennt Octave seine Schuld. Der Arzt muss das Avatar rückgängig machen, aber auch das wird nicht für alle Beteiligten gut ausgehen …

Das Ende ist melancholisch und witzig zugleich, aber ich kann es natürlich nicht verraten.

Leseungewohnheiten …

Was den heutigen Leser leicht stören kann, sind ein paar Eigenheiten des Schreibstils, vor denen ich deshalb warnen wie auch deren Bedeutung relativieren will.
Gautier spielt allzu häufig auf Maler und Figuren aus anderen literarischen Werken an oder macht Vergleiche zu zeitgenössischen Autoren: „… dass all das zweifelsohne nicht als ein ziemlich geschmackloser Scherz … sein konnte, der sich auf die gleiche natürlichste Art aufklären würde wie die Schauergeschichten der Anne Radcliffe“. Man muss wissen, dass der durch die Julirevolution (1830) mittellos gewordene Franzose sein Geld mit Buch- und Theaterkritiken verdienen musste und als Romancier nur begrenzt wirtschaftlich erfolgreich war – vielleicht erklärt sich so diese Neigung. Meinen Lesefluss haben die intellektualisierten Einwürfe tatsächlich unterbrochen, zumal ich dann nicht anders kann, als die Dinge nachzuschlagen (o.k., selbst schuld!).
Und mitunter nervt das l’art pour l‘art, als dessen Begründer Gautier gilt. Kaum entsteht ein bisschen Spannung und man fiebert, ob Octave in seinem neuen Avatar mit der Liebe vorankommt, muss man sich drei Seiten lang durch eine Beschreibung der Inneneinrichtung des gräflichen Speisezimmers beißen (120-122). Natürlich hat uns der Autor anfangs sensibilisiert, dass „jedes Interieur sich allmählich seinen Bewohner angleicht und vielleicht sogar zum Spiegelbild seines Innenlebens wird“ (6). Aber ich habe keine Ahnung, wie ich „die von einem Kranz aus Veilchen eingerahmten Früchte“ (122) und „altertümliche Salzfässer, Humpen, Schalen und Tafelaufsätze“ (121) deuten sollte. Also ist es vielleicht doch nur die ungenießbare Variante des l’art pour l’art?

Skurrilität genießen

Lasst Euch nicht von dem Ungewohnten abhalten und stören. Denn Gautiers Avatar ist in weiten Teilen ein sehr skurriles Werk der Phantastik, das durchaus noch heute zu faszinieren vermag. Psychologisch ist es genial, wie der Romancier mit dem Thema Perfektion, Vollkommenheit, Absolutheit spielt. Für Octave ist sie direkt vor Augen in Gestalt der Angebeteten, aber absolut unerreichbar; die Gräfin Prascivia Labinska besitzt sie im Übermaß, stürzt aber andere damit ins Unglück; der Arzt Balthazar Cherbonneau hat die höchste Stufe erreicht, ist aber dennoch auf einen leiblichen Körper angewiesen … Für keinen gibt es ein Entrinnen aus dem Unvollkommen.

Sind nicht auch die Avatare unseres digitalen Lebens immer die vollkommenere Erscheinungsform von uns selbst, um dem allzu hinfälligen Zeitlichen zu entrinnen?
Vollkommenheit gibt es nicht um alles Streben in dieser Welt. Ein Avatar bringt uns dem nicht näher. Helfen kann vielleicht nur die Anerkennung der Begrenztheit … und vielleicht ein bisschen träumen.
Das Ende von James Camerons Film ist auch nur ein digital-schöner Traum, der nicht gut weiter gehen kann. Der bereits gedrehte Teil 2, der erst 2022 in die Kinos kommt, könnte also einen sehr sinnigen Titel tragen:

Avatar – Rückkehr der Unvollkommenheit

 
Théophile Gautier, Avatar
, Mathes & Seitz, 2011, aus dem Französischen von Jörg Alisch, 160 Seiten Roman, nebst 40 Seiten Anmerkungen und Nachwort (Michael Roes)
 

[Der Mensch hat sich] auf grausame Weise an seinem verbrieften Recht auf Unvollkommenheit vergriffen; obwohl dazu erschaffen, taugt er zu Gottes Ebenbild doch nur ziemlich schlecht.

Fixiert auf seinen Materialismus, ahnt unser Europa nichts von jenen Höhen der Vergeistigung, zu denen die Büßer Indiens vorgedrungen sind. (S.47)

Alles ist Geist;
die Materie hingegen existiert nur in der Vorstellung, und womöglich ist das Universum nichts als ein Traum Gottes oder die Ausstrahlung seines Wortes in die Unermesslichkeit.
(S.61)

Wie alle geschmähten Liebhaber, so fragte auch er sich, warum er wohl nicht geliebt werde – als ob es in der Liebe ein ‚Warum‘ gäbe! Der einzige Grund, der sich dafür anführen lässt, ist das ‚Darum‘. (S.149)

 

Théophile Gautier, Avatar, Mathes & Seitz, 2011

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