Streaming Inc. und Lesekiller KG

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Streaming Inc. und Lesekiller KG

Lesen, lesen, lesen …

Natürlich haben wir alle in den letzten anderthalb Jahren viel mehr gelesen als sonst. Ist doch so, oder? Gesparte Zeit durch Homeoffice, insgesamt ruhigere, Pandemie entschleunigte Zeiten (außer man war Onlinelernmanager:inelternteil), weniger Abend- und Besuchsaktivitäten, Sehnsucht nach einer virenfreien Welt und ein bisschen Flucht aus selbiger – alles perfekt für vergnügte heimische Lesesofa-Sessions. Und paradiesische Konjunktur für die Verlage durch hohe Buchauflagen …

Nichts davon stimmt – und das ganz ohne Komplexitätsreduktion. Vielleicht sind die Buchnerds das „wir“, das sich vermehrt dem Buchstabenvergnügen gewidmet hat, wir anderen „wir“ jedenfalls nicht.
Ein paar Zahlen mögen dies belegen.

Der Umsatz des deutschen Buchhandels ist in 2020 gleich wie im Nichtkrisen-Vorjahr. Immerhin und zum Glück! Trotzdem setzen sich die bereits bekannten Abwärtstrends bei näherer Betrachtung fort. Immer weniger Menschen lesen Bücher (-1,5 % weniger in 2020 als 2019, 32 % weniger als in 2011), alle Buchsegmente (Belletristik, Sachbuch, etc.) bis auf Kinder- und Jugendbücher sind rückläufig, zudem wurden in der Belletristik rund 5 % weniger Titel produziert. Das erste Halbjahr 2021 sieht noch düsterer aus und für das zweite könnte der Papiermangel womöglich zusätzlich als hemmender Faktor durchschlagen. In einer Umfrage des GfKs (durchgeführt 01.2021, s. Link oben) geben zwar 25 % an, in der Krisenzeit mehr zum Buch gegriffen zu haben, aber in den harten Zahlen spiegelt sich das nicht im Geringsten wider.

Mehr Lesen in Pandemiezeiten? – Fehlanzeige!

Vielleicht wurde auf die häusliche Bibliothek – sofern vorhanden – vermehrt zugegriffen, aber selbst wenn dies zuträfe, kann es nicht darüber hinwegtäuschen, dass Lesen sich als deutscher Volkssport keineswegs zunehmender Beliebtheit erfreut.

Warum ist das so?

Womöglich gibt die oben erwähnte GfK-Umfrage, versehen mit ein paar weiteren Fakten, die Antwort. Es könnte nämlich ein – wie man in der Marketing-Sprache sagt – Verdrängungswettbewerb sein. In Pandemiezeiten gaben 30 % der Befragten an, mehr ferngesehen zu haben, und gar fast 50 % haben mehr gestreamt. Aha!
Wer mehr Zeit zur Verfügung hatte, ist also in das Angebot der digitalen Medienwelt abgewandert. Und tatsächlich. Die großen Anbieter von Film- und Serienvergnügungen konnten in dieser Phase enorm profitieren, mehr als man sich bewusst ist.

Allein Netflix verzeichnete eine Steigerung der weltweiten Abos in 2020 bis heute (Ende Q3 2021) um über 25 %. Disney Plus gar konnte vom Start in 2020 bis heute bereits fast 4 Mio. Abos in Deutschland für sich verbuchen. Zeitgleich wuchs laut JustWatch die Nutzung der Streaming-Dienste (also der Abruf von Filmen und Serien) hierzulande um im Durchschnitt mehr als 150 % – das ist 2,5 Mal mehr als vorher und damit wirklich enorm. Dass es kaum einen Haushalt ohne einen großen Flatscreen-Fernseher gibt, ist schon lange Fakt. Aktuell aber sind rechnerisch bereits weit über 80 % der 40 Mio. Haushalte in Deutschland zusätzlich mit zeit- und programmunabhängigen Streaming-Angeboten versorgt (Abozahlen: Prime: 15-17 Mio., Netflix: 11-12 Mio., Disney Plus: 3-4 Mio., Pay-TV Anbieter mit Videoondemand: 4-5 Mio. = gesamt: 33-38 Mio; wegen Mehrfachabos evtl. weniger Haushalte).

Eine solche Zunahme des Film- und Serien-Konsums in Deutschland ist kein Anstieg, das ist bereits eine Flut und womöglich eine Katastrophe – je nach Bewertung. Auf eine solche kommt es natürlich an. Aber allein die Fakten finde ich persönlich sowohl extrem beeindruckend wie auch definitiv beunruhigend. 2,5 x mehr Glotzen, aber weniger Lesen. Das fällt mir nur ein neudeutsches Wort dafür ein: krass!

Lesekiller 2

Ist lesen wirklich besser als streamen … ?

Alltagserfahrungen

Auf die Idee für eine vertiefte Recherche bin ich gekommen, als ich im Corona-Lockdown meine Kontakte telefonisch (oder per „Videoschalte“) pflegte und immer öfters auf den „Hexer“, „The Last Kingdom“ und ähnliche Serien und Filme angesprochen wurde. Natürlich hatte ich die auch gesehen und konnte eifrig mitdiskutieren, aber irgendwann fiel mir die Dominanz dieser medialen Themen auf. Besteht mein Freundeskreis eigentlich nur aus Serien-Junkies?
Als ich dann mein frisch fertiggestelltes Buch einigen dieser Freunde zum Lesen anbefohlen habe, gab es öfters mal ein „oh“ verbunden mit der Beichte, bereits seit einigen Monaten kein Buch mehr gelesen zu haben. Und das von Menschen, die früher durchaus einiges weggelesen haben.

Ja ist es zu fassen? Dabei weiß doch jeder einigermaßen Informierte, dass Lesen die geistige Entwicklung fördert, zur seelischen Gesundheit beiträgt und ein Mittel zur frühzeitigen Vorbeugung gegen Demenz ist, was man vom Konsumieren eines Films und Serienmanie leider nicht behaupten kann.

Ist das wirklich so? Oder nur ein Mythos, der Spuren von Moralin enthält? Ich musste selbst nachforschen. Aus eigener Erfahrung finde ich Lesen tatsächlich deutlich entspannender und meistens anregender als „Glotzen“, aber entspricht das nachprüfbaren Erkenntnissen?

Hinweise auf eine „objektive“ Bewertung

Wissenschaftliche Studien scheinen tatsächlich zu belegen, dass das Lesen nicht nur eine vielfältig aktivierende Stimulanz auf das Gehirn hat, sondern sich auch langzeitig und nachhaltig positiv auf den Erhalt der komplexen Funktionsfähigkeit auswirkt (schön dargestellt im Artikel von Karo auf FiktionFetzt). Vermutlich lässt sich Ähnliches für alle Tätigkeiten nachweisen, die unser Gehirn fordern, sei es Schach oder Klettern oder womöglich sogar interaktive Computerspiele. Insofern ist Lesen hier sicherlich nicht die einzige Möglichkeit, zumal gerade Lesen nicht übermäßig sozial ist und auch nicht verbunden mit Bewegung – zwei weiteren wichtigen Faktoren für geistige Fitness.
Aber ist „Glotzen“ im Gegenzug als schädigend zu verteufeln? Sicher nicht. Wie immer macht es das Maß. Doch das Potenzial zur Sucht und zu selbstschädigendem Verhalten (schlechter Schlafrhythmus, Reduzierung der sozialen Kontakte, unregelmäßiges Essen/ Junkfood, weniger Bewegung) ist nicht gering und sollte ähnlich wie bei Alkohol nicht verharmlost werden. Auch die Abstumpfung durch dauerhafte Berieselung mit übermäßigen Sinneseindrücken und Gewalt ist nicht zu unterschätzen. Und tatsächlich ist ein Zusammenhang (zumindest Koinzidenz) zwischen erhöhtem Fernsehkonsum und Demenz in neueren Studien nachweisbar. Das ist ein deutlicher Hinweis, dass „Glotzen“ tatsächlich zu einer Trägheit des Gehirns beiträgt und damit – salopp ausgedrückt – zu Verdummung führt.

Mir geht es nicht um ein „entweder oder“, eine Überhöhung des Lesens oder gar um eine moralische Bewertung. Dafür sehe ich selbst viel zu gerne Serien. In einem der ersten Gespräche mit meiner heutigen Frau (also Jahrzehnte her) soll ich sie gemäß ihrem „Narrativ“ sogar gefragt haben, was sie denn gerade so „sieht“. Bei der anschließenden Abwägung meines Serienjunkie-Risikos geriet dieses Potenzial in der Gesamtbewertung wohl nicht ins Übergewicht – wir sind noch verheiratet (obwohl man mit ihr keine Serien schauen kann …). Nur soviel zu meinem Hintergrund.

Beitrag Lesekiller 3
Die ästhetisch kühle, aber unglaublich beeindruckende und gut bestückte Stuttgarter Stadtbiliothek

Auswirkungen einer Kultur der Serien-Manie

Dennoch sehe ich drei negative Tendenzen, die sich durch die Zunahme einer „Kultur der Serien-Manie“ über das Streaming(über-)angebot ergeben. Dies sei hier zur Diskussion gestellt:

1. Nimmt die faktische Lesezeit ab, bedeutet dies kulturelle Verarmung

Obowohl die Lesefähigkeit in Deutschland zunimmt – wir haben immer noch eine (funktionale) Analphabetismusrate von 12 % in der Bevölkerung, aber zum Glück fallend – gerät das Lesen immer mehr ins Hintertreffen. Da sich eindeutig der Rückgang des Lesens und die Zunahme von Streamingangeboten parallel entwickelt haben, ist die Hypothese von einem Verdrängungswettbewerb relativ plausibel.
Wir lesen weniger, weil wir mehr glotzen.
Der Alltagserfahrung entsprach diese Abhängigkeit schon immer (z.B. bei der Entscheidung am Abend nach dem Kinderdienst: lesen oder glotzen). Schuld sind natürlich nicht die Streaminganbieter, sondern wir selbst. Aber die Verlockung ist groß und kann auch nur durch eine gewisse Abstinenz und bewusstes Verhalten verändert werden. Der Nutzen und was für das Lesen spricht, ist groß. Dass das Lesen schwindet, bedeutet an sich bereits eine kulturelle Verarmung, weil eben diese eine Dimension fehlt. Wenn aber das durchaus interessante „Streamen“ auch noch zur Trivialisierung der Sichtweise beiträgt, dann doppelt. Dazu mehr im nächsten Punkt.

2. Die Blüten des Verdrängungswettbewerbs fördern Verdummungstendenzen

Kurzfristig sah es so aus, also wäre der Pandemieboom für Netflix bereits zu Ende, denn zur Mitte des Jahres 2021 schwächte sich die Wachstumskurve stark ab. Dann aber gelang Netflix mit „Squid Games“ ein erneuter Coup – die im September gestarteten Folgen über eine tödliche Spielshow poppte in wenigen Wochen zur erfolgreichsten Serie ever bei Netflix hoch. Laut einem ARD-Bericht sollen bereits 142 Mio. Nutzer in die Serie reingezappt haben.
Nett formuliert scheint mir Squid Games einfallslos (wir kennen die „hunger games“ von Suzanne Collins ja schon zur Genüge), dafür makaber und schockierend, tendenziell sogar menschenverachtend, aber dieses Urteil ließe sich über viele Serien fällen. Bemerkenswert ist vor allem, dass bei den Anbietern Qualität und Werte in dem immer härter werdenden Kampf um Marktanteile keine Rolle (mehr) spielen und nur noch Quote zählt. Bei Netflix war zwar der Erfolg immer schon alleiniges Kriterium für die Fortsetzung einer Serie, aber der Markt war noch jung und fast konkurrenzlos, so dass eine Serie von der nächsten schrägen, tiefsinnigen und wunderschönen Serien abgelöst wurde.
Jetzt allerdings geht es für die Anbieter um den harten Machtkampf und das Überleben am Streamingmarkt. Trotz enormer Umsätze und jährlicher Gewinne im Milliardenbereich ist Netflix immer noch nicht in den schwarzen Zahlen angekommen und steht angesichts der erstarkenden Konkurrenz enorm unter Druck – so recherchiert von brand eins. Kein Wunder also, dass man immer mehr vom ewig Gleichen und vom immer wieder gern Gesehenen produziert. Wir werden eingelullt. Die Verdummungsmaschinerie scheint an Fahrt aufgenommen zu haben. Wir kriegen vorgesetzt, was wir gewohnt sind und gewöhnen uns an immer mehr, was uns bei unbeeinflusstem Verstand kaum gefallen dürfte.

Ich kann das Filmgeschäft letztlich nicht beurteilen und Netflix hat für seine Originals auch schon berühmte Filmpreise eingeheimst. Ein Grund zum Feiern war es aber angesichts der genannten Situation ganz bestimmt nicht, als Netflix-Chef Reed Hastings im September ankündigte, mit einem Budget von 500 Millionen in den nächsten zwei Jahren in deutsche Serien zu investieren. Der beste Beweis (und ein Bereich, von dem ich etwas verstehe): Die einzige deutsche Fantasy-Serie, die m.W. in diesem Rahmen realsiert wird, basiert auf einer Buchserie von Marah Woolf (Mondsilber-Licht), die so schlicht und einfach gestrickt ist, dass sie das Genre Fantasy nicht im Mindesten repräsentiert ( The Winner is Romantasy … – Rezension des Buchs) und Schlimmes vorausahnen lässt.

3. Der Medienkonsum verändert die Lesererwartungen und das Buchgenre

Mich wundert gar nicht mehr, dass in gängigen Buchblogs ständig Hochspannung und Thrill verlangt werden. Erzähltes soll so schnell in der Szenenfolge geschnitten sein wie im Film. Wir sind es ja inzwischen genau so gewohnt. Serien werden abgesetzt, wenn sie den Zuschauer nicht jeden Moment fesseln (er darf nicht wegzappen) mit heftigen Bildern und aufgeladenen Emotionen. „Längen“ in Büchern sind deshalb nicht mehr zu dulden. Ein Ereignis muss das andere jagen um als Pageturner zu gelten …
Es wäre einen eigenen Artikel wert, wie unser Netflix und Co. KG -Suchtverhalten Rückwirkungen auf die Erwartungen an das Erzähltempo und die emotionale Grundierung beim Buchkonsum haben. Ich fürchte, der gängige Markt ist schon sehr geprägt von diesen medien-„verseuchten“ Lesern. Wenn sie denn überhaupt lesen … Sollte man sich also darüber freuen, dass sie wenigstens noch lesen?

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Fazit

Es liegt in der Hand jedes Einzelnen, ob die neuen Streaming-Möglichkeiten das Lesen immer mehr verdrängen. Dass sie es bereits tun, daran zweifle ich nicht. Und ich befürchte, dass wir uns gar nicht über die Konsequenzen bewusst sind. Es ist ja so nett – und da schließe ich mich mit ein – ein bisschen durch Netflix & Co. KG zu zappen, um mir einen um den anderen netten Abend zu machen. Keine Verteufelung. Ich liebe Serien. Aber es darf schlicht nicht überhandnehmen. Deshalb habe ich Netflix im Mai dieses Jahrs gekündigt. Einfach nur, um eine bisschen Abstinenz zu üben. Das tat gut. Und ich lese wieder mehr.
Wie ist es bei dir?

Neil Postman hat bereits 1985 in seinem Buch „Wir amüsieren uns zu Tode“ einige  Tendenzen angesprochen, wie uns die Flut an Informationen und das Fernsehen zunehmend verdummen.
Der Untergang des Abendlandes ist auch über 35 Jahre später noch nicht geschehen, aber zu denken geben darf es wohl …

 

 

„There is a revolution happening, and within two years I think that Wi-Fi and Netflix will be built into all the televisions…”

Reed Hastings, Netflix-Chef, in einem Interview 2009


„Wer sich auf das geschriebene Wort einläßt, der macht sich eine Denkweise zu eigen, die hohe Ansprüche an die Fähigkeit, zu klassifizieren, Schlüsse zu ziehen und logisch zu denken, stellt.“ (68)
“Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an. (…) Denken ist keine darstellende Kunst. Doch das Fernsehn erfordert die Kunst der Darstellung …” (114)“

“Aus dem Wesen dieses Mediums ergibt sich, daß es den Gehalt von Ideen unterdrücken muß, um den Ansprüchen optischer Anziehungskraft, das heißt: den Wertmaßstäben des Showgeschäfts, zu genügen.” (115)“
„(…) kein Medium ist übermäßig gefährlich, sofern seine Benutzer wissen, wo die Gefahren lauern.“ (196)

Neil Postman, Wie amüsieren uns zu Tode, S. Fischer Verlag 1985 .

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